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Politik - 17.11.2018

Merkel in Chemnitz: „Ich weiß, mein Gesicht polarisiert“

Zwei Stunden stellte sich Kanzlerin Merkel den Fragen der „Freien-Presse“-Leser in Chemnitz.

Von Hubertus Volmer


Knapp zwei Stunden diskutiert Kanzlerin Merkel mit Chemnitzern. In den meisten Fragen geht es um ihre Flüchtlingspolitik. Dabei wird deutlich: Wenn es um Gefühle geht, trifft der alte Vorwurf, Merkel könne nicht gut erklären, durchaus zu.

Ist alles vielleicht nur eine Frage der richtigen Kommunikationsstrategie? Bei der Leserdebatte der "Freien Presse" in Chemnitz erhebt sich ein Mann im Publikum, um genau diese Position zu vertreten. Vorn steht Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich gerade noch vorhalten lassen musste, ihre eigenen Fehler nicht zu erkennen.

"Wissen Sie, was die Leute Ihnen übel genommen haben?", hatte gleich die erste Fragestellerin des Abends gesagt. Sie meint eine Äußerung der Kanzlerin, die am Tag nach der Bundestagswahl 2017 in einer Pressekonferenz fiel: Sie könne nicht erkennen, was sie nun anders machen müsse. Die Frau versteht diesen Satz als Fortsetzung eines anderen Merkel-Diktums: Wir schaffen das. "Wir hätten alle gedacht, dass Sie sagen, ja, wir haben Fehler gemacht und wir müssen das jetzt schnell korrigieren."

Merkel hat Verständnis für den Vorwurf – einerseits. Schon als sie damals nach der Pressekonferenz in ihr Büro gekommen sei, habe man ihr den Satz "sehr um die Ohren gehauen". Auf der anderen Seite verweist sie darauf, dass dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen worden sei. Tatsächlich habe sie sich nicht auf die Flüchtlingspolitik bezogen, sondern auf den Wahlkampf.

Das stimmt. Vollständig lautete Merkels Äußerung. "Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten. Ich habe diesen Wahlkampf gut durchdacht. Ich habe ihn so gemacht, wie ich ihn gemacht habe." Aber die Frau aus Chemnitz war keineswegs die Einzige, die Merkel falsch verstanden hatte. Braucht die Bundesregierung also eine neue Kommunikationsstrategie?

Manchmal muss man auch mal lesen

Der Mann im Publikum, der das fordert, glaubt, dass die Bundesregierung "die Fähigkeit der Menschen zur Aufnahme von Nachrichten" überschätzt. Ein wenig zugespitzt könnte man sagen: Er hält seine Mitbürger für ein bisschen doof. Deshalb schlägt er Merkel vor, kurze Filme produzieren zu lassen, um den Leuten komplizierte Dinge einfach zu erklären. Merkel verweist darauf, dass Regierungssprecher Steffen Seibert regelmäßig kleine Videos twittert und dass sie selbst einen Videopodcast habe. Und fügt hinzu: "Ich weiß, dass wir besser werden müssen, denn wenn Sie es nicht erreicht, waren wir nicht gut genug." Da greift der Chefredakteur der "Freien Presse", Torsten Kleditzsch, ein: "Für manche Probleme muss man einfach einen langen Text lesen."

Doch Lesen hilft nicht immer. Bei vielen Beiträgen aus dem Publikum wird deutlich, dass es häufig nicht um Fakten, sondern um Gefühle geht – übrigens nicht nur bei Leuten, denen Merkels Politik missfällt. Eine Frau etwa sagt, es verschaffe ihr Beruhigung, dass Merkel an der Spitze der Bundesregierung stehe. Auch für sie steht die Kommunikation im Mittelpunkt: "Warum schafft es die Regierung nicht, ihre unbestrittenen Erfolge den Menschen nahe zu bringen?" So viel Lob scheint der Kanzlerin peinlich zu sein. Die Hälfte des Publikums denke jetzt, "dafür bin ich aber nicht hergekommen, dass da jemand Merkel lobt".

Merkels Besuch in Chemnitz ist eine Folge der Konflikte, die nach der tödlichen Messerattacke in der Stadt ausgetragen wurden. Auf die Frage, warum sie nicht früher in die sächsische Stadt gekommen sei, antwortet Merkel, sie wisse noch aus dem Bundestagswahlkampf, "dass ich ein Gesicht habe, das polarisierend wirkt für viele". Bis heute haben viele Chemnitzer das Gefühl, von der Presse unfair behandelt worden zu sein. Den Eindruck, als Fremdenfeinde abgestempelt zu werden, kann Merkel nicht nachvollziehen. "Sie müssen sich diesen Schuh doch nicht anziehen", sagt sie. "Damit verstärkt man ja so was noch."

"Es passieren viele schreckliche Dinge"

Den meisten Fragestellern brennt das Flüchtlingsthema auf den Nägeln. Merkel erklärt, warum das Abkommen der EU mit der Türkei sinnvoll ist, sie sagt, dass eine Kanzlerin ja nicht verkünden könne, "wir schaffen das nicht", und sie begründet auch, warum es ein Fehler war, den Flüchtlingen nicht schon in den Lagern in Jordanien und im Libanon geholfen zu haben. Aber als sie erklären soll, was sie denkt, wenn sie von Fällen wie dem Chemnitzer Todesfall und der Gruppenvergewaltigung von Freiburg liest, gerät sie ins Schwimmen. "Ich denke, dass das Dinge sind, die wir absolut verbessern müssen", sagt Merkel. "Es passieren viele schreckliche Dinge, aber bei jedem muss man einschreiten."

Wenn es nicht um Gefühle geht, sind ihre Antworten klarer. Einem Mann, der fragt: "Wann treten Sie zurück?", erklärt sie, sie sei nun einmal für die ganze Legislaturperiode gewählt. Einem weiteren Fragesteller teilt sie mit, dass sie im Wahlkampf die Spitzenkandidatin jener Partei gewesen sei, ohne die nach der Wahl keine Regierung habe gebildet werden können. "Das hat dazu geführt, dass ich jetzt Bundeskanzlerin bin. Und ich glaube, die Ergebnisse demokratischer Wahlen sollten wir alle akzeptieren."

Mehrere Redner fragen auch nach dem UN-Migrationspakt – das heißt, sie fordern, dass Deutschland sich, wie die USA, Israel, Österreich und einige osteuropäische Länder, aus dem Abkommen zurückzieht. Merkel macht deutlich, dass das für sie nicht infrage kommt. "Alle europäischen Länder haben sehr einvernehmlich an dem Migrationspakt verhandelt", sagt sie. Dann jedoch hätten "immer mehr Menschen" – sie meint Regierungschefs – Angst vor den Lügen bekommen, die über diesen Pakt in die Welt gesetzt würden.

Ist also wirklich alles nur eine Frage der Kommunikation? Nach den zwei Stunden in Chemnitz kann man diesen Eindruck durchaus bekommen. Der alte Vorwurf, Merkel könne nicht gut erklären, trifft mitunter durchaus zu. Allerdings wurde auch deutlich, dass es nicht immer an der Kanzlerin liegt, wenn sie falsch verstanden wird.

Hubertus Volmer ist Leiter des Politik-Ressorts von n-tv.de.

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