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Deutschland - 05.12.2018

„Alte Haftbefehle dümpeln vor sich hin“

In Deutschland können Haftbefehle gegen Rechte nicht vollstreckt werden – Experten verwundert das nicht. Gesuchte schafften es häufig, nicht aufzufallen. Das Hauptproblem aber sei der Personalmangel bei der Polizei.

Eine Demonstration von Neonazis im August in Berlin anlässlich des 31. Todestages von Rudolf Heß

467 Haftbefehle stehen gegen Neonazis in Deutschland aus – und die Polizei findet die Rechtsradikalen nicht. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor. Ein Großteil der Gesuchten werde zwar oft nach kurzer Zeit gefasst oder die Haftgründe entfallen. Aber rund ein Viertel der gesuchten Neonazis steht schon seit mindestens zwei Jahren auf der Fahndungsliste.

Die Zahlen überraschen den Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer nicht – im Gegenteil. „Die Polizei ist nicht ausreichend ausgestattet, um all den hängenden Haftbefehlen nachkommen zu können“, so seine Einschätzung. Immerhin gibt es in Deutschland rund 175.000 offene Haftbefehle (Stand März 2018). Zu wenige Polizisten stehen dieser großen Zahl an Haftbefehlen gegenüber.

Deshalb priorisieren die Landeskriminalämter (LKA) und die Innenministerien der Länder radikal, etwa nach der Schwere der zugrunde liegenden Tat. „Es macht einen Unterschied, ob es einen Vollstreckungshaftbefehl gibt, weil jemand seinen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens nicht bezahlt hat, oder ob jemand wegen eines Tötungsdelikts gesucht wird“, schreibt zum Beispiel das Bayerische Staatsministerium des Innern auf DW-Anfrage.

Gezielte Arbeit bei gefährlichen Straftätern

Das bestätigt auch Christian Pfeiffer. „Wenn jemand wegen einer aktuellen Straftat gesucht wird, die schwerer Natur ist, also zum Beispiel ein flüchtiger Bankräuber; jemand, der Totschlag begangen haben soll oder wegen einer Vergewaltigung beschuldigt wird, dann setzt die Polizei Fachkräfte an, die die üblichen Verfahrensweisen anwenden: Bekannte Adressen prüfen, Anlaufstellen aus seinem Netzwerk ansprechen – dann wird gezielt gearbeitet“, erklärt der Kriminologe.

Christian Pfeiffer war bis 2015 Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen

Wenn aber keine überaus gefährliche Straftat vorliege, vertraue die Polizei durchaus darauf, Gesuchte „per Zufall“ zu fassen: bei Personenkontrollen oder auf frischer Tat bei einer weiteren Straftat. Für diese Personen werde zum Beispiel kein Bewegungsprofil angefertigt, oder analysiert, wie sie sich online verhalten oder wo sie Geld abheben. „Die Polizei kontrolliert nicht das normale zivile Verhalten – nur, wenn sie etwa einen flüchtigen Mörder sucht.“

Im Ausland kaum eine Chance

Die Behörden stehen aber oftmals noch vor weiteren Herausforderungen. Abgesehen davon, dass gegen eine Person mehrere Haftbefehle vorliegen können, hätten die deutschen Behörden zudem oft gar keine Möglichkeit, die gesuchte Person zu fassen. Viele Gesuchte hielten sich im Ausland auf, so die Erklärungen aus Bayern. Viele Länder lieferten eigene Staatsangehörige nicht aus. Der Haftbefehl bestehe dann in Deutschland aber weiter und verjähre erst nach der gesetzlichen Verjährung. Die Situation im Ausland ist übrigens ähnlich: Auch dort müssen die Behörden stark priorisieren, wen sie gezielt und verstärkt verfolge, sagt Pfeiffer.

Laut dem Kriminologen sei die Zahl der anhängigen Haftbefehle in den vergangenen Jahren deshalb so stark gestiegen – seit 2014 hat sich die Zahl der gesuchten Neonazis fast verdoppelt – weil es einfach mehr rechte Straftaten gegeben habe. „Dann ist es normal, dass auch noch später Haftbefehle anhängen“, so Pfeiffer. „Das wird jetzt wieder weniger werden, weil die rechte Gewalt derzeit rückläufig ist – die Szene hat sich beruhigt.“

Auf dem „rechten Auge“ blind?

Er stellt aber noch eine weitergehende Frage, die die aktuelle Kleine Anfragen nicht beantwortet: „Spannend ist: Welche Unterschiede ergeben sich im Vergleich der Bundesländer? Es kann ja sein, dass manche LKAs mehr und manche weniger Energie investieren, diese Personen aufzuspüren.“ Es müsse geklärt werden, ob das Vorurteil zutreffe, dass die Polizei in Ostdeutschland auf dem „rechten Auge“ blind sei oder ob sich die Zahlen bundesweit gleichmäßig verteilen.

Wer sich letztendlich unauffällig verhalte, habe aber auch gute Chancen, gar nicht gefunden zu werden. „Der Alltag ist, dass alte Haftbefehle vor sich hindümpeln. Wenn die Straftat nicht allzu schwer ist, dann kann es sein, dass man lange Zeit davon kommt“, so Pfeiffer. Erst wenn sich ein Bürger aktiv beim Staat melde, sei es beim Einwohnermeldeamt, bei der Führerscheinstelle oder bei der Sozialversicherung, würde auffallen, dass er per Haftbefehl gesucht werde. Auch eine Kontrolle an der Grenze könne die Gesuchten auffliegen lassen.

Einfach unter dem Radar

Doch entsprechende Straftäter seien gerissen, sagt Pfeiffer, sie könnten durchaus gut unter dem Radar der Polizei bleiben. Diejenigen, die ihren Lebensunterhalt mit kriminellen Aktivitäten verdienten, lebten mitunter gefährlich, irgendwann ertappt zu werden. Andere, die zum Beispiel bewusst „schwarz“ arbeiteten, könnten lange davonkommen, weil sie etwa der Sozialversicherung nicht bekannt sind.

Letztendlich beschreibt die Zahl für Kriminologen Pfeiffer aber einen langjährigen Missstand: „Wir brauchen eine personelle Verstärkung der Polizei. In einigen Bundesländern gab es auch Verstärkungen, aber nicht überall, sondern oft wurden nur Planstellen aufgefüllt. Was die Polizei bräuchte, wäre eine reelle Verstärkung.“

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