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Wissen und Technik - 04.06.2019

Ein Massaker vor 10.000 Jahren

Die Opfer hatten keine Chance: Am Ende der Eiszeit wurde eine Gruppe von Jägern und Sammlern brutal niedergemetzelt – Männer, Frauen und Kinder.

Mordopfer. Diesem Mann wurde die Stirn mit einer stumpfen Waffe eingedrückt – möglicherweise mit einer Holzkeule.

Es sieht nicht so aus, als hätten die Angreifer Gefangene gemacht. Mit äußerster Brutalität töteten sie ihre Opfer: eingeschlagene Schädel und Wangenknochen, gebrochene Hände, Rippen und Knie, dazu Pfeile im Nacken und eine Messerklinge, die noch im Schädel steckte. Wahllos wurden Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt, 27 an der Zahl. Darunter auch eine Hochschwangere, die, an Händen und Füßen gefesselt und mit zerschmetterten Knien, den Tod fand.

Das Massaker fand vor 10.000 Jahren statt. Opfer war eine Gruppe von Jägern und Sammlern, vielleicht eine Großfamilie. Sie lebten am Ende der letzten Eiszeit an einer Lagune etwa 30 Kilometer westlich des Turkana-Sees im heutigen Kenia. Und hier starben sie auch, erschlagen am Rand des Gewässers, in das einige von ihnen hineinfielen. Die Getöteten wurden von ihren Mördern offenbar einfach liegengelassen.

Die Knochen der Opfer überdauerten Jahrtausende knapp unter der Oberfläche

Der Tatort ist verlandet, der frühere Ausläufer des Turkana-Sees Buschland. Nataruk heißt die Gegend heute. 2012 wurden die Skelette entdeckt, sie lagen nur wenig unter der Oberfläche und hatten, bereits versteinert, die Zeiten überdauert. Im Fachblatt „Nature“ berichten nun die Anthropologin Marta Mirazon Lahr von der Universität Cambridge und ihr Team über die Ausgrabung.

Die Studie liest sich fast wie ein gerichtsmedizinisches Protokoll. Akribisch haben die Wissenschaftler die Lage der Opfer und ihre Verletzungen, soweit an den Knochen feststellbar, aufgezeichnet. Aber die nüchterne Bestandsaufnahme lässt einen nicht kalt. Etwa wenn es heißt, dass die Überreste von sechs Kindern in direkter Nähe zu denen von vier Frauen gefunden wurden. Hier wird sich jeder ausmalen, was sich damals zutrug.

Vermutlich wird niemand für dieses prähistorische Verbrechen gesühnt haben, aber die Ausgrabung bedeutet auch eine späte Würdigung der Opfer. Doch kann man überhaupt von einem Verbrechen sprechen, angesichts einer Ära, in der es weder geschriebene Gesetze noch so etwas wie staatliche Gewalt und Polizei gab? Die Wildbeuter-Sippen, die das fruchtbare Ufer der Lagune zum Fischfang nutzten, waren ohne höheren Schutz auf sich gestellt. Womöglich war das Überleben der Gruppe der höchste Maßstab für Gut und Böse, der Kampf um ein Jagdrevier – und damit um existentielle Bedürfnisse – hätte also auch den moralischen Ernstfall bedeutet. Der Tod des Nahrungskonkurrenten wäre aus dieser Sicht ethisch zu rechtfertigen.

Kampf ums Revier, Raub – oder einfach Aggression?

Die Funde belegten die gezielte Tötung einer kleinen Gruppe von Wildbeutern und seien ein deutlicher Hinweis, „dass Kriegsführung zum Repertoire der Beziehungen zwischen manchen prähistorischen Gruppen von Jägern und Sammlern gehörte“, sagte Lahr laut einer Pressemitteilung der Universität Cambridge.

Das Massaker könnte am Ende des Versuchs gestanden haben, sich einer Beute zu bemächtigen, etwa des Reviers, von Vorräten in Tonkrügen oder von Frauen und Kindern. Oder es könnte eine übliche Art und Weise gewesen sein, in der zwei Gruppen sich begegneten.

Die Motive hinter der Metzelei werden sich nicht mehr aufklären lassen. Dafür belebt die Ausgrabung eine alte Debatte unter Anthropologen über die Frage, wie kriegerisch oder friedfertig die Jäger und Sammler der Steinzeit waren. Denn entgegengesetzt zum populären Klischee des keulenschwingenden und felltragenden Berserkers gibt es auch das des pazifistischen Kräutersammlers.

Die Idee vom „edlen Wilden“ hat einen Rückschlag erlitten

Gesund, gleich, glücklich: Frei von Hierarchien und im Einklang mit der Natur durchstreifte dieser „edle Wilde“ Wälder und Steppen, meint die eine Fraktion. Erst Ackerbau und Viehzucht, die vor 12 000 Jahren einsetzten, bedeuteten den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies. Die Menschen schrumpften, wurden kränklich und kriegerisch und unterwarfen sich Königen.

Für eher friedlich halten etwa die Anthropologen Douglas Fry und Patrik Söderberg die Wildbeuter-Kulturen. Mit einer 2013 im Fachblatt „Science“ veröffentlichten Auswertung von tödlichen Aggressionen in heutigen Jäger- und Sammler-Kulturen wollen sie belegen, dass diese weniger kriegerisch sind als gedacht. Mehr als die Hälfte der Gewalttaten entfiel auf Einzelne, fast zwei Drittel seien das Ergebnis von Zufällen, Familienstreitigkeiten, Eifersucht, Rache und persönlichen Auseinandersetzungen. Nur eine Minderheit sei als kriegerisch zu bezeichnen. „Vielleicht liegt die Neigung zu Krieg nicht unserer Biologie, sondern in unserer Soziologie“, sagte Fry dem Magazin „Wired“.

Andere widersprechen. So der Ökonom Samuel Bowles, der annimmt, dass der menschliche Altruismus kein Kind des friedlichen Miteinanders, sondern des kriegerischen Gegeneinanders ist. Die Konflikte zwischen den Wildbeuter-Gruppen schärften den Zusammenhalt innerhalb der Gruppen. Auch der Anthropologe Richard Wrangham argumentiert in diese Richtung. Neben dem Menschen habe nur sein nächster Verwandte, der Schimpanse, die Neigung zu gemeinschaftlich verübten, gewalttätigen Überfällen auf Artgenossen entwickelt. Die aktuelle Studie aus Kenia gibt ihnen anscheinend Recht: Eine Blutspur führt aus dem Garten Eden.

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