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Wissen und Technik - 18.12.2018

Die Suche nach dem Sinn des Schlafs

Elefanten kommen mit drei Stunden Schlaf aus, Tiger mit 16, Menschen eher mit sieben. Allmählich verstehen Forscher, wozu die nächtliche Bewusstlosigkeit gut ist – und welche Risiken es mit sich bringt, wenn wir schlaflos bleiben.

Unvermeidbar. Der Mensch kann nicht länger als ein paar Tage ohne Schlaf auskommen. Dann überkommt er ihn in jeder Situation.

Am frühen Morgen kroch die Zeit dahin. Aus den Lautsprechern schallte „Surfin’ U.S.A.“ von den Beach Boys, der Donut-Vorrat für die Nacht war verspeist, ein Freund erzählte irgendetwas Belangloses. Vor Randy Gardners Augen verschwamm alles. Um die bleierne Müdigkeit zu vertreiben, stellte er sich unter die Dusche. Erst die aufgehende Sonne brachte etwas Erleichterung.

So war es bereits in der zweiten Nacht seiner selbst auferlegten Schlaflosigkeit. Insgesamt blieb der 17-Jährige elf Tage – 264 Stunden – ununterbrochen wach. Mit dem Selbstversuch zum Jahreswechsel 1963/64 wollte Gardner einen Wettbewerb der Point Loma High School in San Diego gewinnen. Zwei Freunde halfen ihm dabei. In Schichten vertrieben sie ihm die Zeit, protokollierten alles und brachten ihn zu Untersuchungen.

Zuerst ließ die Konzentration nach. Am dritten Tag wurde Gardner launisch, am vierten halluzinierte der schmächtige Schüler, er sei ein Football-Star. Ihm war schwindlig, er fühlte sich verfolgt, zeitweise konnten ihn seine Freunde kaum noch verstehen. Nach einer Woche gab es keine Hochs mehr, nur immer tiefere Tiefs. Ein Arzt ließ ihn kopfrechnen: „Beginne mit 100 und subtrahiere immer wieder sieben!“ Gardner kam bis 65, dann wurde er still. „Was ist los?“ „Ich habe vergessen, was ich machen soll.“ Am 8. Januar 1964 konnte sich der Teenager nicht mehr halten. Er schlief in einer Klinik mehr als 14 Stunden durch.

Verwirrende Schlafvielfalt

Der Mensch kann sich diesem seltsamen Zustand der Bewusstlosigkeit kaum entziehen. Das erklärt allerdings nicht, warum Schlaf entstanden ist. Wer seinen ursprünglichen Sinn verstehen will, muss heute lebende Tiere beobachten, sagt Niels Rattenborg vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen. Und stößt dabei auf eine verwirrende Vielfalt.

Fregattvögel fliegen tagelang über den Ozean, ohne Rast. Die Große Braune Fledermaus verschläft 20 Stunden pro Tag. Elefanten reichen drei Stunden, Großkatzen wie Tiger reihen eine kurze Siesta an die andere und kommen so auf 16 Stunden. Selbst Taufliegen ruhen. Unser letzter gemeinsamer Vorfahr lebte vor etwa 700 Millionen Jahren.

So gegensätzlich wie die Gewohnheiten der Tiere sind die Ansichten der Forscher, die sie deuten. Für eine Fraktion ist Schlaf gefährlich. „Menschen sterben ja auch an Rauchvergiftung, wenn sie ein Feuer im Schlaf überrascht“, sagt der Schlaf- und Gedächtnisforscher Jan Born von der Universität Tübingen. Wer schläft, kann weder Nachkommen zeugen noch Nahrung suchen oder sein Revier verteidigen. Schlaf müsse eine überlebenswichtige Funktion haben. Sonst sei er der größte Fehler der Evolution.

Von Fleisch- und Pflanzenfressern

Das Mysterium sei keines, kontert der Neurobiologe Jerome Siegel von der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Die Arten hätten sich an bestimmte Lebensräume angepasst. Danach – und nicht nach Gehirngröße oder Intelligenz – richte sich ihr Schlafrhythmus. „Wer nicht wach sein muss, geht in einen Energiesparmodus.“ Wenn Raubtiere wie Löwen ein Tier erlegt haben, ist ihr Bauch tagelang gefüllt. „Warum sollten sie dann umherstreifen und sich möglicherweise verletzen?“, fragt Siegel. Elefanten dagegen sind reine Vegetarier. Um ihren Körper mit Nährstoffen zu versorgen, müssen sie fast unaufhörlich fressen und zu neuen Weiden wandern. Siegel hat es auf eine Formel gebracht: Fleischfresser schlafen mehr als Allesfresser. Und Allesfresser mehr als Pflanzenfresser.

Schlaf mache nicht grundsätzlich schutzlos, meint Siegel. Die Große Braune Fledermaus verrichte ihr Tagwerk in der Dämmerung, wenn viele Insekten umherschwirren. Danach zieht sie sich in eine Höhle zurück, um nicht selbst zur Beute zu werden. Elefanten und Giraffen seien im Schlaf wirklich verletzlich. Auch daher der Kurzschlaf.

Andere verfallen in einen Halbschlaf. Rattenborg hat Stockenten am Abend in eine Reihe gesetzt und ihre Hirnströme überwacht. Die Enten in der Mitte steckten bald ihre Köpfe unter die Flügel und drifteten zwischen Tief- und Traumschlaf hin und her. Die Tiere an den Seitenenden schickten nur eine Hirnhälfte in den Tiefschlaf. Mit dem nach außen gerichteten Auge überwachten sie ihre Umgebung. Nach einer Weile drehten sie sich um, die andere Hälfte erholte sich.

Zwölf Prozent der Deutschen schlafen regelmäßig weniger als fünf Stunden

Diesen Trick beherrscht kein Mensch. Nach 15 Minuten sinken wir immer tiefer in den Schlaf, bis in den Hirnstromkurven vor allem sehr langsame Deltawellen zu sehen sind. In dieser Zeit schottet sich das Gehirn ab. Nach 90 Minuten ist es vorbei mit der Ruhe. Nach zwei Übergangsphasen wird die Kurve lebhaft, die Augen zucken hin und her, der Stoffwechsel wird angekurbelt. Der Traumschlaf – oder REM – beginnt. Vier bis sechs solcher Zyklen durchläuft der Mensch pro Nacht. Dabei wird der Tiefschlaf immer kürzer, der Traumschlaf länger. Nach sieben oder acht Stunden sind Erwachsene bereit für einen neuen Tag.

Dass Schlafentzug Ratten töten kann, hält Siegel für unbewiesen. Nicht einmal Gardner habe Langzeitschäden davongetragen. Junge Eltern hätten ständig zu wenig Schlaf. Viele Forscher sind sich jedoch sicher, dass chronischer Schlafmangel krank macht. Hierzulande schlafen zwölf Prozent der Erwachsenen weniger als fünf Stunden pro Nacht, ergab die Befragung von fast 8000 Deutschen für die DEGS-Studie des Robert-Koch-Instituts.

Dass Menschen mit Schlafstörungen zu Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und Herzkrankheiten neigen, wurde in Langzeitstudien beobachtet, schreiben Bernd Schultes vom Medizinischen Zentrum St. Gallen und seine Kollegen im Fachblatt „The Lancet“. Sie fassen zusammen, welche Mechanismen dazu führen können: Wenn der Tiefschlaf zu kurz ausfällt, kommt zum Beispiel der Fett- und der Zuckerstoffwechsel aus dem Gleichgewicht. Das Hormon Insulin kann Glukose nicht mehr effektiv in die Körperzellen schleusen, der Blutzucker steigt. Es gibt Hinweise darauf, dass Schlaflose mehr Ghrelin produzieren – ein Hormon, das Hunger auslöst – und weniger von dem Appetitzügler-Hormon Leptin. Übernächtigte Probanden suchen sich größere Portionen aus, essen mehr Zwischenmahlzeiten und Süßes.

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