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Politik - 22.11.2018

Das Grundrecht auf Asyl: Merz‘ Vorstoß ist eine „Scheindebatte“

Artikel 16a des Grundgesetzes regelt das Grundrecht auf Asyl. In der Praxis findet es aber kaum Anwendung.

Von Markus Lippold


Am Tag darauf rudert Friedrich Merz zurück. Er stelle keinesfalls das Grundrecht auf Asyl in Frage. Trotzdem fordert er eine Debatte darüber. Doch was hat es mit diesem Grundrecht auf sich? Und was ist das Besondere an der deutschen Rechtslage?

Friedrich Merz fordert eine Debatte über das deutsche Asylrecht. Deutschland sei das einzige Land der Welt, das ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung stehen habe, sagte er auf einer Regionalkonferenz der CDU im thüringischen Seebach. Es müsse offen darüber geredet werden, ob dieses Asylgrundrecht bei einer europäischen Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik "in dieser Form fortbestehen" könne, so Merz. Nach breiter Kritik stellte er zwar später klar, dass er das Grundrecht auf Asyl nicht grundsätzlich in Frage stelle. Die Forderung nach einer Diskussion hielt er aber aufrecht.

Doch was steckt hinter den Äußerungen des früheren Unionsfraktionschefs? Was ist das Individualrecht auf Asyl? Und wie könnte eine Änderung des Grundgesetzes aussehen?

Wo ist das Grundrecht auf Asyl festgeschrieben?

In Artikel 16a des Grundgesetzes heißt es: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Anders als viele andere Staaten räumt Deutschland damit in der Verfassung Menschen das Recht auf Asyl ein.

Ursprünglich galt dieses Grundrecht schrankenlos. Mit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 wurde es jedoch deutlich eingeschränkt. Angesichts vieler Asylbewerber aus dem damaligen Jugoslawien änderten Union, FDP und SPD damals das Grundgesetz. Eine Folge: Wer über einen sicheren Drittstaat einreist, kann sich seither nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen. Artikel 16a gilt deshalb eigentlich nur noch für Menschen, die – aus einem unsicheren Staat kommend – Deutschland über einen Flug- oder Seehafen erreichen.

Daneben gewährt Deutschland Menschen aber auch aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 Schutz. Dies ist in Paragraf 3 des Asylgesetzes festgelegt. Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in der Heimat "ernsthafter Schaden" droht, wird zudem ein eingeschränkter (subsidiärer) Schutz gewährt.

Was ist der Unterschied zwischen dem Individualrecht, das Merz anspricht, und einem objektiven Rechtsanspruch?

Die Grundrechte in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes hätten eine Doppelnatur, sagt dazu der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg n-tv.de. "Sie sind einmal die Aufforderung an den Staat, seine Rechtsordnung gemäß den Grundrechten zu gestalten." Das sei die objektiv-rechtliche Ebene. Hinzu komme in Deutschland jedoch die subjektiv-rechtliche Ebene: "Das ist der individuelle Anspruch gegenüber dem Staat auf Beachtung des Grundrechts", sagt Boehme-Neßler. Jeder könne deshalb gegen den Staat klagen, wenn nötig bis zum Bundesverfassungsgericht.

Wie vielen Menschen wird das Grundrecht auf Asyl nach Artikel 16a gewährt?

Die Zahlen sind äußerst gering. Zwischen 2009 und 2017 bekamen laut einer Aufstellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) pro Jahr weniger als 2 Prozent aller Antragsteller den Status als Asylberechtigte nach Artikel 16a bewilligt. 2016 etwa erhielten demnach von 695.733 Antragstellern nur 2120 Menschen auf diesem Wege Asyl, das sind 0,3 Prozent. Zum Vergleich: 256.136 Menschen, also 36,8 Prozent, wurde der Flüchtlingsstatus aufgrund der Genfer Konvention anerkannt, 153.700 Menschen (22,1 Prozent) erhielten subsidiären Schutz.

Im laufenden Jahr wurde von 186.886 Antragstellern zwischen Januar und Oktober 2403 Menschen Asyl nach Artikel 16a zugesprochen, das sind 1,3 Prozent.

Könnte man den subjektiven Rechtsanspruch abschaffen?

Merz' Kritik ist nicht neu. Die Forderung, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen, wurde schon oft vorgebracht, sowohl von Politikern, als auch von Juristen. Im Gespräch ist etwa eine Umwandlung des subjektiven Rechtsanspruchs in eine rein objektiv-rechtliche Regelung. Laut Boehme-Neßler müsse man dies dann ausdrücklich ins Grundgesetz schreiben. In jedem Fall wäre eine Verfassungsänderung nötig.

Angesichts der aktuell niedrigen Zahlen nennt Boehme-Neßler dies aber eine "Scheindebatte". Es habe im Zuge der Asylrechtsverschärfung Anfang der 1990er-Jahre eine große Diskussion zu einer möglichen Grundgesetzänderung gegeben. Da sei es aber um richtig große Zahlen gegangen. "Das hat sich inzwischen erledigt."

Was wäre für eine Änderung des Grundgesetzes nötig?

Sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat müssten zwei Drittel der Abgeordneten einer Änderung des Grundgesetzes zustimmen. Derzeit ist dies äußerst unwahrscheinlich, zumal Merz' Vorstoß von Vertretern aller Parteien, außer der AfD, kritisiert wurde. Merz' Konkurrenten um den CDU-Vorsitz, Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn, lehnen eine Grundgesetzänderung ab.

Gäbe es rechtliche Bedenken gegen eine Grundgesetzänderung?

Die sogenannte Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes legt fest, dass die Artikel 1 (Menschenwürde) und 20 (Staatsform) nicht verändert werden dürfen. In der Verfassungsrechtwissenschaft wird deshalb diskutiert, ob wegen des Schutzes der Menschenwürde auch andere Grundrechte einen besonderen Schutz genießen. Boehme-Neßler verweist jedoch auf eine eindeutige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der eine Einschränkung des Asylrechts nicht automatisch die Menschenwürde betreffe. "Verfassungsrechtlich kann man dieses Grundrecht also ändern, wenn man die entsprechenden Mehrheiten hat."

Welche Folgen hätte eine Grundgesetz-Änderung?

Ein rein objektiver Rechtsanspruch würde staatliche Organe weiterhin verpflichten, ein Recht auf Asyl einzuräumen. Individuell einklagbar wäre das Recht dann aber nicht mehr. So hätte der Staat Gestaltungsspielräume. Denkbar wären etwa Obergrenzen für Asylbewerber, die per einfacher Gesetzgebung beschlossen und je nach Lage flexibel verändert werden könnten.

Boehme-Neßler schränkt jedoch ein, dass eine Obergrenze nicht so gestaltet werden dürfe, dass man nicht mehr von Asyl sprechen kann. "Die objektiv-rechtliche Regelung sagt ja, dass Asyl grundsätzlich noch möglich sein muss, auch wenn man es nicht individuell einklagen kann", erklärt der Verfassungsrechtler. Eine Obergrenze von 20 Asylbewerbern im Jahr wäre etwa zu wenig.

Merz hat infrage gestellt, dass das Grundrecht auf Asyl bestehen bleiben kann, wenn man eine europäische Flüchtlingspolitik anstrebt. Stimmt das?

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, widerspricht vehement: Das Flüchtlingsrecht sei mittlerweile fast komplett durch europäisches Recht und die Genfer Flüchtlingskonvention geregelt, sagt sie – was auch die Zahlen des Bamf bestätigen. Auch der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günther Burkhardt, weist darauf hin, dass das internationale und europäische Flüchtlingsrecht Vorrang habe vor dem deutschen Grundgesetz.

Prinzipiell stimmt Boehme-Neßler dem zu: "Europarecht hat Vorrang vor nationalem Recht." Für eine einheitliche europäische Asylpolitik sei eine Grundgesetzänderung nicht nötig. Jedoch schränkt er ein, dass europäisches Recht oft nur einen Minimalstandard festlege, unter den das nationale Recht nicht fallen dürfe. Es dürfe aber sehr wohl großzügiger gestaltet sein.

Ein großzügigeres Asylrecht in Deutschland wäre demnach also möglich und würde nicht einer europäischen Regelung widersprechen. Ob Deutschland mit großzügigen Gesetzen Anreize für Asylbewerber schaffe, sei letztlich aber eine politische Entscheidung, so Boehme-Neßler. "Verfassungsrechtlich wäre das alles denkbar, aber es ist eine politische Frage und muss politisch entschieden werden."

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