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Kultur - 05.01.2019

„Der Junge muss an die frische Luft“ – warum Sie den Kerkeling-Film unbedingt sehen müssen

Caroline Link hat Hape Kerkelings Kindheitserinnerungen verfilmt – eine Tragikomödie mit einem grandiosen Hauptdarsteller.

Julius Weckauf in der Rolle des jungen Hape Kerkeling: Hier parodiert er eine Nachbarin, die schrille Frau Kolossa.

Es ist ein magischer Moment, wenn man ihn das erste Mal auf der Leinwand sieht. Diesen neunjährigen, leicht pummeligen Jungen. Der Moment, in dem das ganze Kino lacht. Man erlebt eine sehr spezielle Form kollektiver Wiedersehensfreude, die so nur das Kino zu schaffen vermag. Der Junge schaut einen an, sagt einen Satz, und man glaubt sofort: Das isser. Das ist Hape Kerkeling! So muss der damals gewesen sein.

Was für ein Glücksgriff, dieser Hauptdarsteller. Julius Weckauf spielt den jungen Hape so entwaffnend komisch, glaubwürdig, rührend und souverän, dass einem schier die Luft wegbleibt. So ging es auch Hape Kerkeling selbst. „Der Julius ist smart, der ist clever, der ist charming, der ist witzig, und er ist auch noch diszipliniert und sehr begabt“, sagt der Komiker. „Und das alles kommt in diesem einen Kind zusammen – wirklich erstaunlich!“

Kerkeling hat seine schwierige Kindheit 2014 in dem Buch-Bestseller „Der Junge muss an die frische Luft“ verarbeitet. Jetzt hat die Oscar-Preisträgerin Caroline Link daraus einen wunderbaren Film gemacht. Gut, manchmal ist er einen Hauch zu kitschig geraten. Aber wer aus diesem Film nicht wenigstens ein bisschen gerührt und beglückt herausgeht, muss ein Herz aus Stein haben.

Deutschland. Ruhrpott. 1972. Eine Familie. Sogenannte kleine Leute. Vater, Mutter, zwei Söhne. Der Jüngste heißt Hans-Peter, ist acht Jahre alt, leicht übergewichtig und ein Außenseiter. Halt findet er in seiner großen Familie – eine feierwütige Truppe, in der gern und laut gesungen wird. Der kleine Hans-Peter hat ein Talent zur Komik und merkt schnell, dass er mit seinen Parodien von Nachbarn oder TV-Größen alle zum Lachen bringen kann. Aber ausgerechnet der für ihn wichtigste Mensch, seine junge Mutter Margret (Luise Heyer), ist meist traurig und einsam. Weil der Vater (Sönke Möhring) als Tischler ständig auf Montage ist, muss sie sich allein um die Kinder und den Haushalt kümmern. Als sie nach einer Kieferoperation dauerhaft ihren Geruchs- und Geschmackssinn verliert, versinkt Margret endgültig in tiefer Depression. Die Mutter aufzuheitern wird zur Lebensaufgabe des kleinen Hans-Peter. Und er gibt alles.

Der verklärte Blick zurück

„Der Junge muss an die frische Luft“ ist aber nicht nur ein Film über eine ganz besondere Familie, sondern auch eine nostalgische Zeitreise in die alte Bundesrepublik. Peter Alexander lächelt vom Kiosk. Im „Lichtspielhaus“ laufen Bud-Spencer-und-Terence-Hill-Filme. Es gibt nur drei TV-Programme. Ilja Richter und seine „Disco“ sind modern. Alle rauchen, und Willy Brandt ist Bundeskanzler. War ja gar nicht so übel damals, flüstert es im Subtext.

Dieser verklärte Blick zurück passt zum Zeitgeist. Das Land schaut gerade gern in die Vergangenheit. In die 20er Jahre („Babylon Berlin“), die 50er („Ku’damm 56“ und „59“ , „Aenne Burda“) und in die Wendezeit und die Jahre danach („Weissensee“ , „Honigfrauen“). Irgendwie war’s ja ganz gemütlich, dieses alte Deutschland.

Caroline Link zeigt Recklinghausen als kuscheliges Ruhrpott-Biotop voller Mett-Igel, Eierlikörchen und lustiger Originale, die im Krämerladen oder vom offenen Fenster aus auf ein Kissen gestützt die Welt kommentieren. Die Ausstattung der Ufa-Produktion ist opulent. Häuser, Straßen, Autos, Inneneinrichtung, Mode – alles sehr überzeugend und detailverliebt. Ja, so sah das damals aus. Die Darsteller – unter anderem Joachim Król als Hapes Opa Willi – sind durchweg hervorragend, allen voran Julius Weckauf als achtjähriger Hans-Peter.

Wenn man den heute Elfjährigen trifft, versteht man sofort, warum die Wahl auf ihn fiel. Julius ist ein aufgeweckter, zugewandter Junge. Unverkrampft und ein bisschen erstaunt über all den Rummel um seine Person. Seine Eltern betreiben einen Schreibwarenladen in einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde Julius auch entdeckt – von einem Kunden, der vom Casting für den Film gehört hatte und dachte: Der Julius, das ist doch der richtige Hauptdarsteller. Das fanden die Eltern und ihr Sohn auch. „Ich hab ja immer schon viel Quatsch gemacht“, erklärt Julius.

Die drei fuhren ohne große Erwartungen zum Casting, erst recht, als sie hörten, dass sich 5000 Jungen um die Rolle beworben hatten. 1000 davon sahen sich die Filmemacher näher an. Julius musste Sketche darbieten, Szenen spielen, singen und tanzen. Er kam Runde um Runde weiter – und bekam schließlich die Rolle. Ohne jede schauspielerische Erfahrung. „Megacool“ fand Julius das. Wie er das alles so gut hinbekommen hat? „Ich hab einfach gespielt, was im Drehbuch stand.“ Dass ihn Millionen auf der Leinwand sehen werden, ist noch ziemlich abstrakt für ihn. Und dann das ganze Lob. „Da krieg ich rote Ohren“ , sagt er. „Ich find das gar nicht so besonders, was ich mache. Ich mag den Film auch sehr. Aber ich fand mich jetzt nicht so gut wie Leute in anderen Filmen.“ Am besten gefielen ihm beim Dreh die Pausen:“Einfach mal zum Catering gehen und sich ein Duplo oder so holen. Das fand ich super.“

Julius Weckauf, 11, spielt in „Der Junge muss an die frische Luft“ den jungen Hape Kerkeling.

Vor dem Dreh wusste Julius nicht, wer Hape Kerkeling ist. „Ich kannte nur Horst Schlämmer“ , sagt er. „Ich dachte immer, der wäre echt. Und als ich gehört habe, dass das Hape war, fand ich den natürlich noch besser.“ Beide hätten sich sofort „mega“ verstanden. Kontakt hätten sie bis heute. „Wir quatschen voll viel. Auf Whatsapp und so.“

Caroline Link erzählt von dem Moment, als sich Julius und Kerkeling in einem Tonstudio das erste Mal begegnet sind. „Julius war etwas nervös“ , erzählt sie. „Gleich sollte er den Mann treffen, den er spielen wird. Und dann kam Hape rein und ist ihm so herzlich und offen begegnet, dass das Eis sofort gebrochen ist. Er hat Julius angeguckt, gelächelt und gesagt: ,Du bist jetzt ich.'“ Es hat sofort gepasst mit den beiden. „Der Julius“, sagt Kerkeling, „ist wirklich so, als hätte man sich ihn gebacken.“

Hape Kerkeling nennt den Film ein Meisterwerk. Er habe ihm Trost geschenkt. Der Komiker war auch immer mal wieder am Set, hat sich aber sehr zurückgehalten. Längere Interviews zum Film gibt er nicht. Es geht zwar um seine Kindheit und seine Buchvorlage, aber er will nicht zu sehr im Vordergrund stehen. Die Kreativen sind hier andere.

Manchmal schrammt Caroline Links Inszenierung allerdings knapp am rührseligen Ruhrpott-Musical vorbei. Da wird dann viel gesungen und getanzt, Polonaisen ziehen durch Wohnungen. Aber irgendwie braucht man das auch. Als Ausgleich. Denn dieser Film ist vor allem eines: sehr traurig.

Er erzählt die Geburt der Komik aus der Tragödie. Der kleine Hans-Peter verliert das Zentrum seines Lebens, die geliebte Mutter. „Der Junge muss an die frische Luft“ ist auch ein Film über das Monster Depression. Er zeigt, wie die Krankheit, die man in den 70er Jahren noch „Schwermut“ nannte und weitgehend tabuisierte, einen Menschen langsam auffrisst. Und er zeigt die Hilflosigkeit der Angehörigen. Verzweifelt spielt der Sohn gegen die Traurigkeit der Mutter an. Hape Kerkelings ganzes späteres Repertoire wird hier sozusagen im evolutionären Urzustand geboren: die Parodie, die Travestie, das Singen, der ganze herrliche Blödsinn. Bitte lacht und seid nicht traurig.

Und doch verliert der Junge den aussichtslosen Kampf. Eines Abends ist er mit der Mutter allein zu Haus. Sie erlaubt ihm, so lange fernzusehen, wie er will, und verlässt das Zimmer. Spätnachts geht er noch einmal ins elterliche Schlafzimmer, weil er sich so allein fühlt. Und dann liegt der Achtjährige im Bett neben seiner Mutter. Sie röchelt, ist nicht ansprechbar, weil sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hat. Das Kind ist verzweifelt, schüttelt die Schlafende und sitzt dann nur noch fassungslos und hilflos im Bett, betet zu Gott und wartet auf die Rückkehr des Vaters, während neben ihm die Mutter immer weiter in den Tod hineindämmert.

Lebenslang dieselben Fragen

Als der Vater endlich am Morgen von der Arbeit heimkehrt, ist es zu spät. Im Krankenhaus stirbt Margret, und ihr Sohn wird sich sein Leben lang diese Fragen stellen: Warum habe ich in der Nacht keine Hilfe geholt? Und warum hat sich meine Mutter nicht noch einmal nach mir umgedreht, als sie ins Bett und in den Tod ging?

Caroline Link erzählt, dass Kerkeling befürchtete, der Film würde zu traurig werden. „Ich habe ihm dann gesagt: Aber Hape, der Tod einer jungen Mutter ist nicht relativierbar. Danach ist für die Kinder nichts mehr wie zuvor. Das ist schlimm, und irgendwie bleibt es auch immer schlimm. Mir war es wichtig, auch in der Komödie, die der Film größtenteils ist, den Schmerz nicht zu bagatellisieren.“

Der Film schafft es, die dramatischen Szenen zu zeigen, ohne voyeuristisch zu sein. Caroline Links Regie ist hier angenehm behutsam. Ihr genügen Andeutungen, kurze Sequenzen, ein Krankenwagen, der davonfährt. Wie, fragt man sich, konnte der kleine Hans-Peter das alles verarbeiten? Wie zu dem genialen Komiker, zum Großmeister des intelligenten Blödsinns werden, der die ganze Nation unterhielt?

Vielleicht hat er es damals geschafft, weil er einfach weitermachen musste. Denn nach dem Tod der Mutter wartet die nächste Herausforderung auf den Jungen. Er will unbedingt bei seiner geliebten „Omma“ Bertha (Ursula Werner) und dem „Oppa“ Hermann (Rudolf Kowalski) bleiben, doch die sind schon über 70 und gesundheitlich angeschlagen. Das Jugendamt hat sich angemeldet, um zu prüfen, ob die Senioren überhaupt in der Lage sind, die Kinder aufzuziehen. Der kleine Hans-Peter entwirft eine Art Drehbuch für den Termin und plant genau, wie die Gebrechen der Großeltern durch exaktes Timing und strategisch günstige Platzierung verschleiert werden können. Zu Trainingszwecken spielt er sogar die Frau vom Jugendamt. Natürlich verkleidet. Mit Hut. Die Täuschung gelingt. Die Familie bleibt zusammen.

Hape Kerkeling hat damals gelernt, wie man sich verstellen muss, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Gib alles! Sei ganz jemand anderes, um am Ende du selbst zu bleiben. Vielleicht hat er deshalb später als Erwachsener so perfekt Königin Beatrix oder den irren Horst Schlämmer darstellen können.

Dessen Geburt wird im Film sozusagen vorweggenommen. Hape hat bei einer Schulaufführung nur eine kleine Rolle, soll einen grantelnden Hausmeister verkörpern. Der junge Kerkeling macht aus dem Mini-Auftritt den Höhepunkt des ganzen Stücks. Julius Weckauf spielt das hinreißend komisch.

Ein Komiker wird geboren

Die Szene hat es so nie gegeben, die hat sich Drehbuchautorin Ruth Toma ausgedacht. Aber sie passt perfekt. Mit Mantel, Perücke und Bart betritt der kleine Hape pöbelnd die Bühne: Horst Schlämmer im Larvenstadium. Die Aula bebt vor Lachen. Ein Komiker wird geboren. Einer, den wir heute vermissen. Hape Kerkeling hat sich aus dem Showgeschäft weitgehend zurückgezogen. Er fehlt; sein anarchischer Humor, sein präziser Witz.

Die letzte Szene des Films zeigt den kleinen Hans-Peter mit seiner Familie auf einem Spaziergang durch die Felder. Irgendwann bleibt der Junge stehen und dreht sich um. Er sieht den erwachsenen Hape weit entfernt allein auf der Straße stehen. Kerkeling sieht sein jüngeres Ich an und lächelt. Der Junge blickt in seine Zukunft. Der Komiker zurück. Er hat seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht.

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