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Deutschland - 03.01.2019

Altenpflegerin prangert Gewalt in Pflege an

Eva Ohlerth liebt ihren Beruf. Doch in einem deutschen Pflegeheim will sie nicht mehr arbeiten. Sie würde Gesundheitsminister Jens Spahn gerne zeigen, woran die Pflege krankt – am besten nachts.

„Ich würde Herrn Spahn eine Station servieren, wo er mitlaufen muss, durch stinkende Gänge gehen, wo er nachts Hilferufe hört, die fürchterlich über die Flure tönen, wo Bewohner betteln, dass sie auf die Toilette dürfen“, sagt Eva Ohlerth. Sie wünscht dem Gesundheitsminister ein realistisches Bild der Altenpflege, „nicht einen gut genährten Bewohner im Sonntagskleid in einem schönen Aufenthaltsraum, eine gepflegte Tasse Kaffee vor sich. Das ist nicht die Realität, das sind die glücklichen Ausnahmen.“ Stand Dezember 2017 waren 3,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, die Zahl steigt kontinuierlich. Drei Viertel der Pflegebedürftigen werden zuhause versorgt, ein Viertel in Pflegeheimen. In den Heimen leben die Menschen mit dem größten Hilfebedarf.

Eva Ohlerth beklagt gewaltsame Zustände in der Pflege. Sie ist Altenpflegerin mit 30 Jahren Berufserfahrung. Gearbeitet hat sie im Heim und der ambulanten Pflege, in Deutschland und der Schweiz. Mittlerweile kann sie selbst in der ambulanten Intensivpflege mit 1:1-Betreuung jedem Patienten so viel Zeit widmen, wie er braucht. Eigentlich ist sie viel zu erkältet, aber über das vielfach tabuisierte Thema Gewalt in der Pflege will sie unbedingt sprechen – unter ihrem richtigen Namen. „Für mich fängt Gewalt schon an, wenn ein Bewohner ‚lästig‘ ist, wenn man ihn übersieht, wenn er ruft, ‚ich muss aufs Klo'“. Hartes Anfassen oder Schläge seien Gewalt, aber auch demütigende Bemerkungen, Bevormunden, Fixieren oder das Ruhigstellen mit Medikamenten, sagt Pflegefachkraft Eva Ohlerth – so sehen es auch Experten.

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Mobbing wegen Kritik an Kollegen

Sie habe erlebt, wie eine Kollegin eine Bewohnerin, die an chronischem Durchfall litt, beschimpfte: „Du alte Sau, hast Du schon wieder ins Bett gesch…“ Sie habe die aggressive Kollegin angeschrien und wütend aus dem Zimmer geschickt, sagt Ohlerth: „Diese kleine Dame in dem Bett, sie hat geleuchtet. Sie hatte so eine piepsige Stimme und sagte leise ‚Danke'“. Weil sich die Kollegin über Ohlerth beschwerte, sei sie gerügt worden: „So gehen wir nicht miteinander um.“ Dabei sei das Verhalten der hilflosen Bewohnerin gegenüber viel schlimmer gewesen: „Gewalt in der Pflege wird bagatellisiert.“

Man habe sie ausgegrenzt und gemobbt, „weil ich gesagt habe, die Nachtschwester misshandelt die Leute“. Wenige sprechen offen über solche Zustände. Ohlerth benennt die Pflegeheime in Bayern nicht, in denen sie gearbeitet hat. Selbst der Betriebsratsvorsitzende eines großen Altenheimträgers wagte einen Aufruf nur ohne seinen Namen: „Bitte, liebe Pflegekräfte, zieht Euch nicht den Schuh des ‚Nestbeschmutzers‘ an. Das seid Ihr nicht, ganz im Gegenteil, es ist sogar Eure Pflicht, Missstände anzuzeigen.“ Die Schwächsten im System seien die Heimbewohner, schreibt er in einem Text, der der DW vorliegt.

Ohlerth berichtet, wie eine Patientin beim Lagern mit dem Kopf gegen das Bettgestell schlug und einer anderen so brutal Essen über eine Magensonde eingegeben wurde, dass sie fortwährend aufstoßen musste. „Mich friert es, wenn ich das erzähle“, sagt die 59-Jährige und reibt sich die Arme. Sie sei aufgefordert worden, die Bewohner „nicht zu verwöhnen“, nicht sofort aufs Klingeln zu reagieren. Das sieht sie anders. Mit einer Bewohnerin habe sie auf der Toilette Operetten gesungen, erzählt sie grinsend, „so laut es ging, egal ob falsch. Die Dame ging glücklich ins Bett.“ 

„Stellen Sie sich vor, Sie sitzen im Auto und die nächste Toilette ist zwei Stunden entfernt“

„Pflege beginnt mit Ehrlichkeit“

Die Personalnot in der Altenpflege verschärft die Arbeitsbelastung. Gesundheitsminister Jens Spahn will zwar 13.000 neue Arbeitsstellen finanzieren, doch Fachkräfte sind kaum zu finden. Zwei Drittel der Beschäftigten – die meisten sind Frauen – arbeiten in Teilzeit. Schon 2017 gab es offene Stellen für mehr als 22.000 Altenpfleger und Altenpflegehelfer. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schätzt, dass durch die Alterung der Gesellschaft der Bedarf an zusätzlichen Fachkräften bis 2035 auf bis zu 150.000 steigen könnte.

Deutschland wirbt daher auch Pflegekräfte aus dem Ausland an. Eva Ohlerth hat eine vietnamesische Kollegin, „eine super Pflegekraft“, sagt sie. Sie habe viel Wertschätzung und Herzlichkeit für die Patienten. Entscheidend sei nicht, ob jemand Deutscher sei oder aus dem Ausland komme, sondern ob er oder sie in die Pflege passe, findet sie. Wichtige Voraussetzung seien aber gute Deutschkenntnisse. Man müsse sich mit Bewohnern und Kollegen auf Deutsch verständigen. Alles andere sei „gefährliche Pflege“, warnt Ohlerth.

Die Verantwortung für Missstände und Flucht aus dem Beruf sieht die 59-Jährige auch bei denen, die Dinge dokumentierten, die sie nicht getan haben. Jens Spahn könnte sich bei einer Nachtschicht im Pflegeheim ansehen, was zu schaffen ist und was dokumentiert werde. Er wäre nicht „der erste Gesundheitsminister, der an diesem System scheitert“, sagt Ohlerth: „Pflege beginnt mit Ehrlichkeit.“ Nicht „die Politik“ sei schuld oder Kanzlerin Merkel. Die zierliche Frau wählt drastische Worte für drastische Zustände: „Merkel lässt die (Bewohner) nicht in der Scheiße liegen.“ Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK), der die Heime prüft, sei „machtlos, wenn die Dokumentation ordentlich gefälscht ist“.

„Das Pflegeheim ist das letzte Zuhause der Bewohner. So haben wir uns zu verhalten“, fordert Ohlerth

Einige Pflegeschüler berichteten ihr, dass ihnen beigebracht werde, alles abzuhaken, damit es abgerechnet werden könne. „Das ist Betrug“, sagt Ohlerth, Heime müssten eigentlich Geld zurückzahlen für nicht erbrachte Leistungen. Sie begleitet die jungen Leute als Praxisanleiterin und versucht ihnen zu vermitteln, was für sie das Wichtigste in der Pflege ist: der Respekt vor alten Menschen und ihrer Selbstbestimmung: „Es sind Bewohner, die mieten ein Zimmer. Das ist ihr letztes Zuhause, so haben wir uns zu verhalten. Ich bin nicht die Krankenschwester, die dem Diabetiker den Kuchen wegnimmt. Ich messe den Zuckerwert und schaue, wie viel Insulin ich nach ärztlicher Verordnung nachspritzen darf.“

Gewalt in der häuslichen Pflege

So manche idealistische Kollegin habe dem Beruf den Rücken gekehrt, sagt Eva Ohlerth. Einige säßen heute im Discounter an der Kasse. Weil auch sie den Zwängen im Heimalltag entkommen wollte, machte Ohlerth sich zunächst selbstständig mit einem Pflegedienst. Mehr als 1,7 Millionen Pflegebedürftige werden ausschließlich von Angehörigen versorgt, 830.000 zusammen mit oder ausschließlich durch ambulante Pflegedienste. Über Gewalt in der häuslichen Pflege ist weniger bekannt als über Missstände in Pflegeheimen.

Eine Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) beschäftigte sich mit Gewalt von beiden Seiten in dieser „informellen Pflege“. Fast jeder zweite Pflegende berichtete über psychische und/oder körperliche Gewalt vom Gepflegten. 40 Prozent gaben an, dass sie selbst Gewalt gegen den Gepflegten ausgeübt hätten. Diese Gewalt sei nicht besser als im Heim, sagt Ohlerth, aber sie verstehe, dass sich zwischen Menschen, die jeden Tag 24 Stunden zusammen sind, etwas aufschaukle. „Wenn ich als professionelle Kraft im Heim jemanden schubse, das Essen zu heiß oder zu kalt gebe oder andere Gewalt ausübe, gibt es keine Entschuldigung!“

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Wer ehrlich pflege, habe Probleme, die Arbeit in der ambulanten Pflege zu finanzieren, berichtet die Altenpflegerin über ihre Erfahrungen. Wenn jemand sagte, „ich lass‘ mich heute nicht waschen“, habe sie das nicht abgerechnet. Für einen Toilettengang sehe die Pflegekasse drei bis fünf Minuten vor. Jemand mit Parkinson- oder Demenzerkrankung bleibe vielleicht mitten im Gang stehen. Dann könne man ihn weiterschubsen oder auf einen Toilettenstuhl verfrachten – sie lehne das als Gewalt ab und habe gewartet, bis der Pflegebedürftige weiter geht: „Das zahlt mir kein Mensch.“ Eva Ohlerth gab den Pflegedienst auf und ging zurück ins Heim.

Schrecken der Nacht

Sie verlegte sich auf Nachtdienste, weil sie dachte, dann könne sie in Ruhe gut arbeiten. Doch damals war sie zuständig für 90 Menschen auf drei Stockwerken. Erst seit 2015 muss es in Bayern nachts eine Pflegekraft pro 30 bis 40 Bewohner geben. Eva Ohlerth erzählt bedrückt, dass sie Sterbende allein lassen musste: „Ich habe Angehörige nachts angerufen und gefragt, ob sie kommen. Manche habe ich gar nicht erreicht.“ Sie musste weiterhetzen, weil jemand gestürzt war oder ein Anderer Insulin brauchte. Eva Ohlerth hatte Angst, wieder in das Zimmer des Sterbenden zu kommen: „Lebt er noch?“

Angehörige, sagt Ohlerth, hätten ihr oft bei der Pflege geholfen. Ein Kollege dagegen bedrohte sie, weil sie ihn dabei erwischte, wie er – statt sich um die Menschen zu kümmern – bei einem Bewohner im Zimmer Fernsehen schaute und dessen Essen verzehrte. Er habe die Einlagen einer Bewohnerin nicht gewechselt, so dass ihr Bett morgens triefnass war. Als sie den Kollegen aufgefordert habe, seine Arbeit zu tun, habe der kräftige Mann sich vor ihr aufgebaut und ihr gedroht. Sie habe allen Vorgesetzten davon berichtet, sagt Ohlerth, doch am Ende habe sie das Heim verlassen, nicht der Kollege. Sie sagt, sie vermisse starke Führungskräfte, die denen, die Gewalt anwenden, die Rote Karte zeigten.

Eva Ohlerth ging in die Schweiz und arbeitete dort als Altenpflegerin. Sie erinnert sich an die Wertschätzung: „Wenn ich da sage, dass ich Pflegekraft bin, ist das was ganz Tolles. Wenn ich hier sage, ich bin Altenpflegerin: ‚Um Gottes willen, hast du nichts anderes gelernt?'“ In der Schweiz gebe es flache Hierarchien und Kollegialität, sagt Ohlerth. Fortbildungen wurden ihr bezahlt und honoriert. Sie habe dort keine Gewalt erlebt, das heiße aber nicht, dass es sie nicht gebe.

Gegenseitiger Respekt – dabei würde Eva Ohlerth Pflegeheime gerne mit einem Coaching unterstützen

Mitgefühl nur für Tierbabys?

Aus privaten Gründen kam Ohlerth zurück nach Deutschland. Als Intensivpflegekraft kümmert sie sich jetzt rund um die Uhr um einen einzigen Pflegebedürftigen. Sie wird deutlich besser bezahlt als im Pflegeheim und hat mehr freie Tage. Ihre Chefin habe dieselben Ansprüche an Pflege wie sie – „ein Glücksfall“. In einem deutschen Heim will Eva Ohlerth nie mehr arbeiten. Sie hat viel an sich gearbeitet, um ihren Weg zu finden und bietet jetzt auch ein Coaching für soziale Institutionen an.

In der Gesellschaft vermisst sie Mitgefühl und Empörung. „Wenn ein Tierbaby im Zoo verdurstet, das kommt in den Nachrichten“, sagt Ohlerth, aber das Leid „von hunderten Alten, das nehmen wir in Kauf. Ich habe manchmal das Gefühl, dass wir uns dran gewöhnt haben. Das macht mich wütend!“ Sie hofft, „dass man weiter über Missstände in der Pflege spricht. Das sind keine bedauerlichen Einzelfälle, das ist Alltag“.

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