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Wissen und Technik - 13.03.2019

Wie entsteht Persönlichkeit?

Um das zu erklären, müssen Forscher ihre Grenzen überwinden. Es zeigt sich, dass Erbgut und Umwelt gleichermaßen wichtig sind – und manches Defizit ausgleichen können.

Halt geben. Eine starke Bindung zu wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern hilft Kindern, eine ausgeglichene Persönlichkeit zu…

Die Eltern sind verzweifelt. Ihr Sohn oder ihre Tochter, um die 15 Jahre alt, lassen sich nichts mehr sagen, tun zu wenig für die Schule, nehmen Drogen, klauen, sprühen Graffiti oder mobben Mitschüler. „Wir haben uns solche Mühe gegeben, und nun das!“ In der Regel sollten Eltern nur versuchen, das „Schlimmste“ zu verhüten. Verzweifeln müssen sie aber nicht, denn meist geht mit dem Ende der Pubertät ein solches Verhalten von selbst zurück. Aus biologisch-psychologischer Sicht ist die Pubertät ein emotionales und kognitives Chaos, ausgelöst durch den Einfluss von Sexualhormonen und dem Drang nach Abnabelung und Selbstfindung. Doch all dies ist zeitlich begrenzt, am Grundgerüst der jeweiligen Persönlichkeit ändert sich wenig.

Lügen, Stehlen, Schikanieren

Sorgen müssen sich Eltern allerdings dann machen, wenn solche Verhaltensauffälligkeiten bereits im frühen Kindesalter auftreten. Wenn häufiges Lügen, Stehlen, Schikanieren von anderen, Rücksichtslosigkeit oder Tierquälerei hinzukommen und sich dieses Verhalten nach der Pubertät fortsetzt. Bei rund fünf Prozent der Jungen und ein bis zwei Prozent der Mädchen ist das der Fall. Das sind dann die „missratenen“ und „undankbaren“ Kinder, von denen die Weltliteratur voll ist – man denke nur an die Töchter von König Lear bei Shakespeare oder die von Vater Goriot bei Balzac. Die Eltern machen sich gegenseitig Schuldvorwürfe: „Woher hat er beziehungsweise sie das? Doch nicht von mir, das muss aus deiner Familie kommen!“

Besonders tragisch sind in diesem Zusammenhang Adoptionen russischer und rumänischer Waisenkinder nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Und zwar dann, wenn die Kinder körperlich und/oder psychisch misshandelt oder missbraucht worden waren und sie erst nach dem Ende des zweiten Lebensjahres zu ihren neuen Eltern kamen. Unter solchen Umständen entwickelten die Kinder trotz liebevollster Fürsorge schwere psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Manche Eltern versuchten sogar, die Kinder zurückzugeben. In vielen Fällen wussten sie nichts von der traurigen Vorgeschichte der Adoptivkinder oder dachten, man könne durch großen Betreuungseinsatz die Schädigungen ausgleichen. Es gibt aber auch genügend Gegenbeispiele, bei denen Kinder aus Herkunftsfamilien, die durch Elend, Gewalt und Drogenmissbrauch gekennzeichnet waren, doch zu „ganz ordentlichen Menschen“ wurden. Hatten sie genügend „gute Gene“ oder gab es rettende Personen oder Ereignisse?

Es ist zu kurz gegriffen, allein auf genetische Faktoren oder die Umwelt abzuheben

All das ließ in der Vergangenheit die Frage, warum Menschen zu dem werden, was sie später sind, rätselhaft erscheinen – sofern man nicht zum Pauschalisieren neigte. Biologisch-naturwissenschaftlich Denkende sahen die Antwort vornehmlich in „guten“ oder „schlechten“ Genen und der entsprechenden Hirnentwicklung. Für viele Psychologen und Sozialwissenschaftler waren es die positive oder negative Umwelt und für viele Geisteswissenschaftler und Juristen der Grad der selbst gesteuerten geistig-moralischen Entwicklung, welche die Persönlichkeit eines Menschen bestimmen.

Alle drei Konzepte haben nur eine sehr begrenzte Erklärungskraft. Das zeigen Untersuchungen der vergangenen Jahre von Neurobiologen, Psychologen und Psychiatern. Die starre Entgegensetzung zwischen vermeintlich rein genetisch-biologischen Faktoren und reinen Umweltfaktoren ist überholt, ebenso das klassisch-romantische Bild des „aus sich selbst entwickelnden“ Individuums.

Die neuere Sozialphilosophie, vertreten etwa durch Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann (wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen), und ihre vielen gegenwärtigen Anhänger verstehen den Menschen im Wesentlichen als sozial-kommunikatives Wesen, bei dem die biologisch-neurobiologische Ausstattung keinerlei spezifische Bedeutung hat. Für sie wäre es absurd, die Merkmale sozialen Verhaltens wie Kommunikation, Sinn für Gerechtigkeit, Kooperativität, Streben nach Erkenntnis, Moralität und Freiheit im Gehirn zu suchen. Man stellt naturwissenschaftliches Erklären gegen sozial- und geisteswissenschaftliches Verstehen, Verhalten gegen Handeln, Ursachen gegen Gründe und so weiter.

Schädigungen des Gehirns können zu Persönlichkeitsstörungen führen

Jedoch ist seit Langem bekannt, dass Fehlentwicklungen, Erkrankungen oder Verletzungen bestimmter Teile des Gehirns zu tiefgreifenden Persönlichkeitsstörungen führen, einschließlich schwerer Störungen des Sozialverhaltens wie Gewalttätigkeit und Psychopathie. Spektakulär sind die Folgen einer akuten Verletzung des unteren und inneren Stirnhirns durch mechanische Schädigung oder einen Schlaganfall. Sie können aus einem friedfertigen und planvoll vorgehenden Menschen eine hochimpulsive und rücksichtslose Person machen.

Warum es zu diesen Persönlichkeitsveränderungen kommt, wurde mittlerweile aufgeklärt: In diesen Teilen des Stirnhirns befinden sich Gebiete, die im Laufe der ersten 20 Lebensjahre unter dem Einfluss von Erziehung und Sozialisation in spezifischer Weise „verdrahtet“ werden und entsprechend unser soziales Verhalten lenken. Dabei spielen Impulshemmung und das Erkennen und Berücksichtigen sozialer Risiken eine besondere Rolle. Andere Hirnbereiche haben mit Empathie und der Fähigkeit zu tun, das Denken und Fühlen der Mitmenschen nachvollziehen zu können. Für nahezu alle Aspekte sozial-kommunikativen Handelns wie gegenseitiges Verstehen, Liebe, Religiosität, aber auch Scham, Reue und mildtätiges Tun (um nur wenige zu nennen) haben Forscher Regionen gefunden, die zusammengenommen ein großes Netzwerk des „sozialen Gehirns“ bilden.

Die Fürsorge der Bezugsperson erzeugt Urvertrauen

Bereits in den 1940er Jahren erhärtete sich im Rahmen der von John Bowlby und Mary Ainsworth etablierten Bindungsforschung die Erkenntnis, dass die ersten Lebensjahre bei der Ausreifung dieses „sozialen Gehirns“ entscheidend sind. Und zwar im Rahmen der frühkindlichen Bindungserfahrung mit der primären Bezugsperson, also in der Regel – aber keineswegs notwendigerweise – mit der Mutter. Zum einen erfahren Säugling und Kleinkind die Wohltaten der Fürsorge durch die Bezugsperson, und dies erzeugt ein Urvertrauen. Gleichzeitig differenziert sich durch die emotional-kommunikative Interaktion die anfangs noch diffuse Gefühlswelt des Kindes langsam aus. Durch die Art, wie die Bezugsperson mit ihm umgeht, prägt sich deren Gefühlswelt dem Kind zumindest teilweise auf. Das betrifft besonders den Umgang mit Stress und Belastungen, etwa der vorübergehenden Trennung von der Mutter, die Fähigkeit, auf Belohnungen zu warten, spontane Impulse zu zügeln, Konflikte gewaltlos zu lösen oder eine Vorstellung vom Fühlen und Denken der Anderen zu entwickeln – also alles, was zu den grundlegenden sozialen Kompetenzen gehört.

Eine depressive Mutter kann die Erkrankung über ihr Verhalten an die Kinder weitergeben

Das setzt allerdings voraus, dass die betreuende Person, also meist die Mutter, selbst über entsprechende Kompetenzen verfügt. Sind diese nicht oder nicht ausreichend vorhanden, zum Beispiel aufgrund eigener mangelnder Bindungserfahrungen, Traumatisierung durch Misshandlung, Missbrauch oder schwere Schicksalsschläge, dann prägen sich diese Defizite in verhängnisvoller Weise in die Psyche und Persönlichkeit des Kleinkindes ein. Sie bilden zudem die Grundlage späterer psychischer Störungen einschließlich mangelhafter Bindungskompetenzen im Jugend- und Erwachsenenalter. Es entsteht dann ein stark erhöhtes Risiko, dass eine depressive Mutter ihre Erkrankung über ihr Verhalten an ihre Kinder weitergibt.

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