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Wissen und Technik - 18.12.2018

Über 100 Jahre Frauenbewegung auf einen Klick

Das neue Digitale Deutsche Frauenarchiv macht rund 500.000 Dokumente zur Frauen- und Lesbengeschichte zugänglich. Darunter Tagebücher und Lesben-Zeitschriften.

Die Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg, Marie Stritt, Lily von Gizycki, Minna Cauer und Sophia Goudstikker (l-r).

„Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf“, beginnt die Sozialdemokratin Marie Juchacz am 19. Februar 1919 als Abgeordnete in der Weimarer Nationalversammlung ihre Rede. Juchacz ist eine von 37 Frauen, die für die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD) in das Parlament einzogen. Ein historischer Moment, dem ein langer Kampf von Aktivistinnen wie Helene Lange, Louise Otto-Peters oder Clara Zetkin vorausging. Sie hatten schließlich erwirkt, dass deutsche Frauen im November 1918 das Wahlrecht erhielten, drei Monate vor Juchaczs Rede.

Neben den Feierlichkeiten zum 68er-Jubiläum geht dieser Meilenstein der Frauengeschichte zuweilen unter. Dabei hätte es keine Tomatenwürfe oder „Mein Bauch gehört mir“-Slogans geben können ohne die Frauenrechtlerinnen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Die Geschichten dieser mutigen Vorkämpferinnen sind jetzt, pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts, zum ersten Mal gesammelt online zugänglich. Das Digitale Deutsche Frauenarchiv (DDF) hat rund 500.000 Dokumente digitalisiert, die die Frauengeschichte für eine breite Öffentlichkeit sichtbar machen. Plakate, Briefe, Tonaufnahmen und andere Fundstücke sind dort versammelt, darunter die Tagebücher von Louise Otto-Peters und Minna Cauer aus dem 19. Jahrhundert.

Den Anfang für dieses Mammut-Projekt machte ein Satz im Koalitionsvertrag von 2013: Man wolle Frauengeschichte in einem zentralen Archiv aufbewahren und aufarbeiten. „Als wir das lasen, war uns gleich klar: Das sind wir“, sagt Sabine Balke, die Geschäftsführerin des DDF, das vom Bundesministerium für Frauen gefördert wird. Mit dem Dachverband i.d.a., der 40 Lesben- und Frauenarchive vereint, hatte Balke bereits eine gemeinsame Datenbank realisiert. Die Digitalisierung der Materialien sieht die Soziologin als Fortführung der begonnen Arbeit: „Es reicht nicht, dass wir ganz tolle Sachen zur Geschichte der Frauenbewegung sammeln, wenn unsere Archive nicht bekannt sind und die Menschen nicht dort hinkommen“, sagt Balke.

Einblick in Alice Salomons Fotoalbum

Der Archivverband bekam den Zuschlag und begann vor zwei Jahren mit der Arbeit. Jedes Archiv stellte Digitalisierungskonzepte vor, die eine Fachjury beurteilte. Dann ging es los. „Digitalisieren ist nicht einfach das Protokoll nehmen, auf den Scanner legen und schon ist es online“, betont Balke. Es steckt eine Menge Arbeit in der Vor- und Nachbereitung und auch in dem Bemühen, die Digitalisate auf lange Zeit zu archivieren, da sich die Technik ständig weiterentwickelt. Das riesige Konvolut an Material wurde vom Team des DDF kuratiert und in einen Kontext gestellt. So finden sich auf der DDF-Seite mehrere Themenbereiche, einordnende Essays von Wissenschaftlerinnen und Zeitzeuginnen sowie Personenseiten für einzelne Akteurinnen.

Sabine Balke, Chefin des Digitalen Deutschen Frauenarchivs.

Eine davon ist Anita Augspurg, Deutschlands erste Juristin und provokante Streiterin im Kampf um Gleichberechtigung. Noch vor dem Jurastudium machte sie in den 1880er Jahren in München ihr unkonventioneller Lebensstil zum Star der Literatenszene. Augspurg rauchte, fuhr Fahrrad, trug kurze Haare – und lebte mit einer Frau zusammen. Alles über ihr Leben und Schaffen ist auf den Seiten des DDF zu lesen. Ein Highlight ist auch das Fotoalbum Alice Salomons, das ihr zum 65. Geburtstag von Weggefährtinnen überreicht wurde und in dem jetzt online geblättert werden kann. Salomon gilt als Wegbereiterin der Sozialen Arbeit als Wissenschaft, heute ist die Hochschule in Hellersdorf nach ihr benannt.

Dass viele der Digitalisate aus der Zeit der ersten Frauenbewegung kommen, liegt vor allem an den Schutzrechten, die für die Zeit vor 1920 erloschen sind. Doch auch die zweite Frauenbewegung ist im DDF dokumentiert. Alice Schwarzer hat ihr Buch „Der kleine Unterschied“ von 1971 freigegeben, das vollständig online steht. Auch über die Abtreibungsdebatte, Frauenbewegungen in der DDR oder Bewegungen der 90er Jahre finden sich Texte und Originaldokumente.

Zu jeder Personenseite gehört ein interaktives Netzwerk

Viele Diskussionen gab es darüber, wie das Archiv mit Diskriminierung und blinden Flecken innerhalb der Frauenbewegungen umgehen sollte, etwa in Bezug auf Women of Color, erzählt Balke. Mit Essays und Themenbereichen habe man versucht, solche Lücken zu schließen. Ein Beispiel ist die Personenseite für May Ayim. Die Dichterin knüpfte in den 1980ern Kontakt zu Audre Lorde und wurde zu einer Vorkämpferin der afrodeutschen Bewegung. Ein wichtiges Feature unter jeder Personenseite ist das Netzwerk, eine interaktive Grafik, in der aufgezeigt wird, mit welchen anderen Aktivistinnen die Person Kontakt hatte. So auch May Ayim. „Je mehr Informationen wir ins Archiv stellen, desto mehr werden diese Netzwerke gefüttert“, sagt Balke. Die Netzwerke sollen Frauen heute anregen, Gruppen zu bilden, sich untereinander zu vernetzen und zu fördern.

Audre Lorde (links) und May Ayim auf dem Winterfeldplatz in Berlin-Schöneberg, 1992.

Balke betont, dass alles noch am Anfang stehe. Sie hofft, dass zukünftig auch Archive etwa von Adefra e.V., einem Verein für schwarze Frauen in Deutschland, digitalisiert werden könnten, wenn das gewünscht sei. „Wir sagen nicht: Das ist die Frauenbewegung“, betont Balke. Geschichte sei immer plural, es gebe verschiedene Perspektiven auf Geschehnisse, die oft auch widersprüchlich seien. Bewerten und kritisch einordnen will das DDF das Geschehene dabei nicht. „Das ist denen überlassen, die das Archiv lesen“, sagt die Soziologin. Das DDF könne auch keinesfalls ein Zusammenkommen von Frauen ersetzen. „Ohne analog kein digital“, sagt Balke. „Es reicht nicht aus, dass wir die Sachen online stellen. Wir müssen uns auch zusammensetzen und darüber debattieren.“ Zu diesem Zweck findet am Samstag die Feministische Sommeruni an der Humboldt-Universität statt – mit mehr als 60 Diskussionsveranstaltungen, Workshops und Vorträgen (siehe Infokasten).

Auch die LGBTI-Geschichte verläuft nicht linear

Eines von Sabine Balkes Lieblingsstücken aus dem Archiv ist die Lesben-Zeitschrift „Die liebenden Frauen“, die 1931 mit dem Erstarken der Nationalsozialisten eingestellt wurde. Schaue man sich die Anzeigen der Zeitschrift aus der Weimarer Republik, an, machten sie das unglaublich große Angebot an Berliner Bars und Lokalen deutlich, in denen Lesben damals feierten, erzählt Balke. „Es ist ein wundervolles Geschenk, dass man so etwas jetzt angucken kann.“

Dass es heute keine einzige Lesbenbar in Berlin mehr gibt, belegt: Auch die LGBTI-Geschichte verläuft alles andere als linear. In den letzten Jahren erstarkten reaktionäre Parteien und Bewegungen in Europa, die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen einschränken, queere Themen aus dem Unterricht verbannen und Gender Studies verbieten wollen. Gleichzeitig gibt es Versuche von rechts, Geschichte zu ihren Zwecken umzudeuten. In Polen nimmt die Regierung Einfluss auf die Gestaltung eines Kriegsmuseums, hierzulande versuchen Teile der AfD, den Holocaust zu relativieren. Geschichte ist politisch wie lange nicht mehr.

Das Deutsche Digitale Frauenarchiv kann hier ein wichtiges Zeichen setzen, findet Sabine Balke. Der Blick auf die Vergangenheit könne Handlungsfelder für die Zukunft aufzeigen, indem er Fehler deutlich macht, aber auch Erfolge, die schlicht in Vergessenheit geraten sind. „In der heutigen Zeit geht es darum, Frauen, Lesben und unsere Geschichte sichtbar zu machen“, sagt Balke. „Der Backlash, der auf uns zurollt ist gewaltig. Wir kommen zur richtigen Zeit.“

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