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Wissen und Technik - 04.12.2018

Tiefe Hirnstimulation könnte nicht nur bei Bewegungsstörungen helfen

Stromimpulse im Kopf wirken bereits gegen die Symptome von Parkinson. Nun wagen Ärzte immer öfter, auch andere Krankheiten so zu behandeln.

Mit Computerunterstützung verkabeln Ärzte das Gehirn von Patienten mit Parkinson und anderen Erkrankungen, um Bewegungsstörungen…

Ben Bargenda steht in der Kantine der Universitätsmedizin Mainz und freut sich. Der Grund: Er hält ein Tablett ruhig in der Hand. Was für die meisten Menschen völlig normal erscheint, war für den Rheinland-Pfälzer lange Zeit undenkbar. Seit seinem 15. Lebensjahr litt der 45-Jährige an „essentiellem Tremor“ – seine Hände zitterten ständig, vor allem in stressigen Situationen. Manchmal wackelte auch der Kopf und die Stimme. Für Ben Bargenda war das belastend, sowohl bei der Arbeit als Teamleiter als auch privat. Besonders schlimm empfand er es in der Kita, wenn er seinen ein und zwei Jahre alten Kindern die Schuhe binden musste. „Die anderen Eltern sehen das Zittern natürlich“, erzählt er. „Aber da denkt keiner an eine Krankheit. Eher glauben sie, dass man überfordert ist, oder schlimmstenfalls, dass man etwas getrunken hat.“

Irgendwann schlug ihm sein Arzt die „Tiefe Hirnstimulation“ (THS) vor. Dabei werden kleine Elektroden in bestimmte Gehirnregionen gelegt, die schwache elektrische Impulse auf das umgebende Nervengewebe übertragen. Das dämmt das Zittern ein.

Auch Wochen später sind die Symptome viel besser, wenngleich nicht ganz verschwunden. Das werden sie vermutlich nie sein, sagt Sergiu Groppa, Leiter der Sektion Bewegungsstörungen und Neurostimulation an der Universitätsmedizin Mainz. „Bei Tremorpatienten können die Symptome um 80 bis 90 Prozent reduziert werden. Aber Bewegungsstörungen sind komplex und schreiten fort.“ THS behandele nicht die Krankheit selbst, sondern nur die Auswirkungen, die Fehlsignale der Nervenzellen. Die elektrischen Reize des Hirnschrittmachers geben den Nervenzellen gewissermaßen den rechten Rhythmus zurück.

Der Strom wirkt auch bei Parkinson oder Dystonie – und Depressionen?

Tremor ist nicht die einzige Bewegungsstörung, die mit THS behandelt wird. Bekannt wurde die Therapie vor allem als Mittel gegen Morbus Parkinson. Dabei sterben Nervenzellen im Hirnareal „Substantia nigra“ ab. Die übriggebliebenen Nerven geraten aus dem Takt und verursachen die typische Schüttellähmung. THS kann die Symptome lindern, wie auch bei Dystonie-Patienten, die unter Verkrampfungen und Fehlhaltungen leiden.

Mittlerweile wird THS auch als Therapie für psychische Erkrankungen erprobt, etwa jenen Formen von Depressionen, bei denen Therapien mit Medikamenten oder Verhaltenstherapien keine nachhaltige Wirkung zeigen (siehe unten). In einigen Studien verbesserten sich die Symptome bereits um etwa 50 Prozent, teils sogar bis 85 Prozent. Doch frei von Symptomen seien die Patienten, die oft eine extrem schwere Ausgangssituation mitbrächten, nach einer THS nicht, betont Sarah Kayser, Psychiaterin an der Universitätsmedizin Mainz. Auch wenn die Wirkung der Behandlung oft beträchtlich sei. Außerdem zeige sich die Veränderung der Gemütslage, anders als bei der Tremor-Behandlung, erst nach längerer Zeit, innerhalb eines Jahres.

Einer der Gründe für die gemischten Erfolge der THS gegen psychische Erkrankungen wie Depression ist, dass die betroffene und zu stimulierende Hirnregion oft nicht so klar abzugrenzen ist wie bei Tremor oder Parkinson. Dennoch wird THS vereinzelt gegen Depressionen eingesetzt – off-label, also ohne offizielle Genehmigung.

Einige Teilnehmer waren danach monatelang beschwerdefrei

Zugelassen ist die Hirnstimulation dagegen zur Behandlung von Epilepsie – in Europa seit 2010, in den USA erst seit April 2018. Dass die Therapie wirkt, zeigte ein Forscherteam um Robert Fischer von der Stanford University in Kalifornien in einer Doppelblindstudie: Weder Patient noch behandelnder Arzt wussten, ob der Patient die echte Behandlung erhielt oder zur Kontrollgruppe gehörte. Allerdings dauerte diese „blinde“ Phase nur drei Monate, danach sandten die Elektroden bei allen Patienten Signale aus. Ein aufwändiges und mit zwei Jahren auch langwieriges Studiendesign. Aber am Ende ließ sich belegen, dass die Behandlung funktioniert. Über die Hälfte der Patienten erlitt nur noch halb so oft einen epileptischen Anfall, 14 Teilnehmer hatten sogar mehrere Monate lang gar keine Beschwerden. Eine Auffälligkeit gab es jedoch: Manche klagten über Depressionen und Gedächtnisschwächen.

Zwei Elektroden stimulieren in dieser Illustration den Nucleus subthalamicus, einen Teil des Zwischenhirns, der wichtig für die…

Die Depressionen als Nebenwirkungen der Behandlung erklären sich finnische Forscher und Mediziner damit, dass die verantwortlichen Gehirnregionen bei Epilepsie und Depressionen eng verknüpft sind. Soila Järvenpääs Team untersuchte daher das psychische Befinden von 22 Epilepsie-Patienten mit THS-Therapie. Zwar konnten sie keine Häufung von Depressionen oder Stimmungsveränderungen bei ihren Probanden nachweisen. Allerdings verstärkten sich die depressiven Symptome bei zwei Patienten, die bereits vorher an Depressionen litten. Und zwei Teilnehmer der Studie entwickelten Paranoia und Ängste. Mit einer veränderten Programmierung der Elektroden ließen sich die Nebenwirkungen allerdings beheben. „Man verursacht mit THS keine irreversiblen Schäden“, betont Sergiu Groppa.

Früher war THS nur die letzte Notlösung

Ob THS auch für Patienten mit anderen neurologischen und psychischen Erkrankungen einsetzbar sein könnte, wird derzeit intensiv erforscht – sogar Essstörungen wie Fettleibigkeit und Anorexie gehören zu den Indikationen. Nie geht es dabei um Heilung, sondern immer darum, die Lebensqualität, Lebensdauer oder beides zu verbessern. Wann THS eingesetzt wird, ist daher für jeden Patienten unterschiedlich und hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. „Früher wurde THS angewandt, wenn gar nichts anderes mehr half“, sagt Sergiu Groppa. „Dann war es oft schon viel zu spät und es gab zu viele Komplikationen.“ Nun gilt: THS hilft dann, wenn die Medikamente nicht mehr die gewünschte Wirkung zeigen. Dieser Zeitpunkt kommt für den einen Patienten früher, für den anderen später.

Für wieder andere ist die Methode freilich noch nicht zugänglich. „Die aktuellen Forschungsergebnisse geben Hoffnung für viele Krankheitsbilder“, sagt Groppa. Aber man müsse realistisch bleiben: In der Forschung sei noch viel zu tun, und bis eine Methode zur Behandlung zugelassen wird, vergehen oft Jahre. Dass eine THS-Therapie noch nicht den gewünschten Erfolg zeigt, liegt oft auch daran, dass die Ursache der Erkrankung nicht hinreichend erforscht ist.

Auch die THS-Technik selbst muss weiterentwickelt werden, etwa die Batterien der Hirnschrittmacher. Sie müssen regelmäßig ausgetauscht werden, etwa alle drei bis fünf Jahre, was jedes Mal eine Operation mit sich bringt. Inzwischen gibt es aufladbare Batterien, die erst nach neun Jahren ersetzt werden müssen, was den Patienten Operationen erspart und gleichzeitig Kosten spart.

Trotz vieler Kontrolltermine im Krankenhaus und Operationen für den Batterie-Wechsel: Für Ben Bargenda war die THS die richtige Entscheidung. Mittlerweile traut er sich wieder, Vorträge vor kleinem und großem Publikum zu halten. Und wenn er im Zoo Getränke für seine Kinder kaufen möchte, kann er das problemlos tun. „Ich freue mich einfach auf die kommende Zeit.“

Stromstöße gegen die Depression

In einigen Fällen von Depression wird die Tiefe Hirnstimulation bereits eingesetzt. Allerdings ist es bei Depressionen – anders als bei einer Parkinsonerkrankung, deren Ursache in Fehlfunktionen der Hirnregion „Substantia nigra“ liegt – oft nicht sofort ersichtlich, welcher Teil des Gehirns erkrankt ist und stimuliert werden sollte. Entsprechend sporadisch waren bislang die Erfolge. Jetzt hat das Forscherteam um Vikram Rao von der Universität von Kalifornien in San Francisco eine Region identifiziert, deren Stimulation mit elektrischen Impulsen die Stimmung von Patienten mit Depression messbar verbessert hat. Es handele sich um den lateralen Orbitofrontalcortex (OFC), schreibt die Gruppe im Fachblatt „Current Biology“. „Die Stimulation hat ein Aktivitätsmuster der Nervenzellen in mit dem OFC verbundenen Regionen des Gehirns hervorgerufen, das vergleichbar war mit dem Muster, wie es in Menschen mit natürlich empfundenen positiven Gefühlen einhergeht“, sagt Rao. OFC sei daher ein vielversprechendes Ziel für die Behandlung von affektiven Störungen wie Depressionen oder Manien.

Die Forscher kommen zu dem Schluss nach Behandlung von 25 Patienten, die allerdings vor allem an Epilepsie litten. Ihnen wurden im Rahmen der regulären Behandlung Elektroden im Gehirn platziert, um die Regionen zu lokalisieren, aus denen die für die Epilepsie typischen überschießenden Nervenzellimpulse stammen. Einige von ihnen klagten aber zusätzlich über Depressionen und ließen die Forscher auch jene Hirnareale mit schwachen elektrischen Impulsen reizen, die im Verdacht stehen, die Stimmungslage zu regulieren und in die Entstehung von Depression involviert zu sein.

Der OFC ist zwar als ein wichtiger Gemütsregulator bekannt, weil er mit vielen anderen Arealen kommuniziert, allerdings ist er auch wenig erforscht. Während die Forscher den OFC und andere Regionen der Patienten stimulierten, stellten sie Fragen über ihren Gemütszustand und ließen sie Fragebögen ausfüllen. Tatsächlich verbesserte eine einseitige Stimulation des OFC die Stimmung der Patienten, und zwar in Abhängigkeit von der Stärke der elektrischen Impulse. Der Vorteil der OFC-Stimulation sei dabei, dass das Areal recht klein ist. Derzeit untersuchen die Forscher, ob eine einmalige Stimulation langfristig wirkt oder ob mehrfache oder gar ständige Impulse nötig sind. Rao hofft, ein Medizingerät entwickeln zu können, das die OFC-Region über gelegentliche elektrische Impulse normalisiert, „ohne dass der Patient dafür irgendetwas tun muss“. Dafür seien jedoch noch viele Tests nötig. skb

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