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Wissen und Technik - 12.06.2019

Müssen kleinere Kliniken bald schließen?

Komplizierte Operationen könnte es künftig nur noch an großen Zentren geben. Was das für Patienten bedeutet.

Patienten müssen sich darauf einstellen, dass die kleine Klinik um die Ecke nicht mehr jede Operation anbietet.

Kaum jemand kennt sie, doch die Mindestmengenregelung dient einem wichtigen Ziel: Schwierige Operationen und Behandlungen sollen nur in Krankenhäusern durchgeführt werden, die dafür die nötige Erfahrung haben. Im Mittelpunkt steht dabei die Sicherheit der Patienten, denn je mehr Menschen mit einer bestimmten Krankheit in einer Klinik behandelt werden, desto seltener treten Komplikationen und Todesfälle auf.

Allerdings, das wurde vergangene Woche durch eine Recherche des „Science Media Center“ bekannt, verfehlten im Jahr 2017 fast 40 Prozent der Kliniken eine oder sogar mehrere der vorgeschriebenen Mindestfallzahlen.

Ab diesem Jahr müssen Krankenhäuser schon im Vorhinein angeben, ob sie die Vorgaben erreichen werden. Wenn nicht, dürfen sie die Behandlungen nicht mehr anbieten. Tun sie es doch, sollen die Krankenkassen das nicht bezahlen. Manche Klinik steht nun vor der Entscheidung, Operationen aus dem Programm zu nehmen und damit Geld zu verlieren, oder aber die Zahl der geplanten Eingriffe zu steigern, um doch noch die Mindestfallzahlen zu erreichen.

Operationen ohne medizinische Begründung

Letzteres sieht Heinz Naegler als potenzielle Gefahr für die Patienten. Der emeritierte Professor der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht untersuchte gemeinsam mit Karl-Heinz Wehkamp von der Universität Bremen in einer Studie, warum jährlich immer mehr Patienten stationär behandelt werden.

Dafür befragten die Wissenschaftler von 2014 bis 2018 etwa 60 Ärzte und Geschäftsführer deutscher Krankenhäuser. „In vielen Fällen berichteten uns Ärzte, dass Patienten ohne medizinische Begründung aufgenommen und operiert werden, um die Mindestfallzahlen zu erreichen“, sagt Naegler. Als Beispiel nennt er etwa den Einbau von Kniegelenkprothesen, der den Ärzten zufolge in vielen Fällen medizinisch unbegründet erfolgt.

Der Grund sei, dass die Krankenhäuser Gewinne erwirtschaften müssten, etwa um ihre Investitionen zu finanzieren oder die Verluste durch die teure Notfallversorgung auszugleichen. Naegler hält die Mindestmengenregelung für einen Anreiz, Patienten stationär aufzunehmen und zu behandeln.

Experten halten die Fallzahlen für zu niedrig

„Wenn ein Krankenhaus bisher acht Bauchspeicheldrüsen-OPs durchgeführt hat, könnte es jetzt vielleicht versuchen, noch zwei weitere zu machen, auch wenn es medizinisch nicht sicher notwendig ist“, sagt der Gesundheitsökonom Thomas Mansky von der TU Berlin. Der sicherste Weg, so etwas auszuschließen, sei, die Mindestmengen deutlich zu erhöhen.

Schon jetzt halten viele Experten die geforderten Fallzahlen für zu niedrig, beim Ersatz von Kniegelenken liegt sie bei 50, bei Pankreas- und Speiseröhren-OPs jeweils bei zehn pro Jahr. „Wenn man bei den Bauchspeicheldrüsen-Eingriffen, die Mindestzahl auf 30 erhöht, erreichen bundesweit schon rund 400 Kliniken diese Zahl nicht mehr“, sagt Mansky.

Das nütze nicht nur den Patienten, die dann nicht mehr in Häusern mit zu wenig Erfahrung operiert werden würden, sondern letztlich auch den kleinen Kliniken selbst. Denn dort, so Mansky, träten auch häufiger Komplikationen auf: „Diese zu behandeln, ist meist deutlich teurer als die Operation selbst, und so wird ein vermuteter finanzieller Gewinn ganz schnell zum Verlust.“

Zu viele kleine, nicht spezialisierte Krankenhäuser

Anders als Naegler, vermutet Mansky hinter der Entscheidung kleiner Kliniken, Mindestmengen-OPs trotzdem anzubieten, nicht zuerst ökonomische Abwägungen. Dafür seien die Fallzahlen zu gering: Bisher fallen nur etwa 177.000 Operationen pro Jahr unter diese Regelung – von mehr als 19 Millionen operativen Prozeduren insgesamt. „Bei den Umsätzen, die auch ein kleines Haus macht, sind ein paar Knieprothesen nicht überlebenswichtig“, sagt Mansky.

Entscheidend, glaubt der Wissenschaftler, sei oftmals der Ehrgeiz der Klinikleitung, mit solchen Operationen überhaupt vertreten zu sein. Dass die Mindestmengenregelung dazu führt, dass kleine Kliniken schließen müssen, glaubt der Forscher also nicht. „Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir zu viele kleine, nicht spezialisierte Krankenhäuser haben. Viele davon bräuchten wir eigentlich nicht.“

Überversorgung gibt es vor allem in den Städten

Trotz des vor Jahren begonnenen Abbaus von Überkapazitäten gab es in Deutschland im Jahr 2017 immer noch knapp 2000 Kliniken und fast eine halbe Million Klinikbetten (Statistik hier als PDF). Im Durchschnitt sind das über 50 Prozent mehr als in den anderen EU-Ländern. Dieses Überangebot führe zu unnötigen Kosten und ineffizienter Behandlung, sagen auch die Krankenkassen. Der AOK-Bundesverband etwa forderte bei der Präsentation des Krankenhaus-Reports 2018 eine stärkere Zentralisierung der Strukturen in Deutschland.

Obwohl auch auf Bundesebene schon lange an einer Neuordnung der Versorgung gearbeitet wird, sind die Widerstände immer noch groß – nicht zuletzt in der Kommunalpolitik, denn das Schließen von Krankenhäusern ist unpopulär.

Dabei heißt Zentralisierung nicht zwangsläufig, dass es auf dem Land keine Krankenhäuser mehr gibt. Betroffen seien vor allem die meist überversorgten Städte, sagt Mansky. Nach Aussage der Senatsverwaltung für Gesundheit gibt es in Berlin beispielsweise 23 Kliniken, die über ein Herzkatheterlabor für Notfälle verfügen. „Sechs bis acht würden reichen“, sagt hingegen Mansky. „Diese müssten dann personell und apparativ optimal ausgestattet werden.“

Klar, dass man solche Umstrukturierungen nicht von heute auf morgen schaffe, aber die Politik müsse unterstützend die Richtung vorgeben. In den Niederlanden, Dänemark oder Finnland geschehe das seit Langem erfolgreich.

Berliner Patienten auch weiter gut versorgt

Die Berliner Senatsverwaltung hingegen steht einer Schließung von Krankenhäusern kritisch gegenüber. Die Qualität der Operationen hänge nicht ausschließlich von der Anzahl oder Größe der Krankenhäuser ab: „Es gibt auch kleine Krankenhäuser in Berlin, die aufgrund ihrer Spezialisierung sehr wichtig für die medizinische Versorgung der Bürgerinnen und Bürger sind“, schreibt eine Sprecherin der Verwaltung.

Das bestreitet auch Gesundheitsökonom Mansky nicht. Trotzdem sei das Potenzial für Zusammenlegungen von Kompetenzen in Stadtstaaten wie Berlin größer als in ländlichen Regionen. Für den Patienten, ist er überzeugt, würde sich durch die die sukzessive Schließung kleiner Kliniken nichts ändern. Im Akutfall sei es schließlich egal, ob ein Krankenwagen nach links in eine kleine Klinik oder nach rechts in ein großes Zentrum abbiegt, die Wege seien in beiden Fällen ähnlich.

[Informationen über Krankenhäuser in Ihrer Nähe inklusive Fallzahlen (wenn vorhanden) stellt zum Beispiel die „Weisse Liste“ bereit]

Auf dem Land sei die Situation etwas anders. Hier müsse man sich den Bedarf individuell für jedes Bundesland anschauen. Vielerorts hätten auch kleine Kliniken noch ihre Berechtigung. „Zentralisierung bedeutet nicht, ersatzlos kleine Kliniken dicht zu machen“, sagt Mansky, die Kapazitäten würden nur anders verteilt. Das gelte auch für das Personal. Schon heute können viele kleine Häuser ihre Stellen nicht besetzen. Würden sie geschlossen, würde jeder Mediziner und jede Pflegekraft angesichts des zunehmenden Personalmangels in einer größeren Klinik sofort eine neue Stelle finden, sagt der Wissenschaftler.

Längere Fahrtwege in Flächenländern

Patienten allerdings, die auf dem Land wohnen, müssten in vielen Fällen eine längere Anreise in Kauf nehmen. Das Klinikum Niederlausitz in Südbrandenburg etwa führte im Jahr 2017 statt der geforderten zehn nur drei Speiseröhren-OPs durch.

Mittlerweile hat das Krankenhaus diesen Eingriff aus seinem Leistungskatalog gestrichen. Den Patienten empfehle man nun, sich an einer großen Klinik in Berlin, Dresden oder Cottbus operieren zu lassen, teilte die Klinik dem Tagesspiegel mit.

An ein solches Vorgehen, das anderswo bereits gang und gäbe ist, werden sich die Menschen wohl auch hierzulande gewöhnen müssen. Das dürfte aber ein kleiner Preis dafür sein, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder gesund werden.

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