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Wissen und Technik - 29.10.2018

Mit Vetter oder Base auf der sicheren Seite

Partnerschaften und Ehen unter Verwandten haben kein gutes Image. Doch lange waren sie weit verbreitet – und sind es mancherorts noch heute.

Blut – blau und krank. Königin Victoria von England hatte zusammen mit ihrem Mann Albert, der auch ihr Cousin ersten Grades war,…

Es wäre das jähe Ende einer Liebe, wenn man herausfände, dass man mit dem geliebten Partner eng verwandt ist. Wie in Max Frischs „Homo faber“ etwa. Es ist ein Tabu, es „geht nicht“, es ist gefährlich, die Kinder könnten krank geboren werden. Mit diesem Denkmuster wachsen wir hierzulande auf. Aber es gibt viele Länder und Kulturkreise, in denen es umgekehrt ist: Ein verwandter Partner gilt dort als die beste Wahl, ein nicht verwandter als eher unsicherer Kandidat.

Wenn auf den Staat kein Verlass ist

Die Diskussion darüber, in welchem Maße es in Berlin Ehen zwischen eng verwandten Personen gibt und ob das für mehr kranken oder geistig unterdurchschnittlich entwickelten Nachwuchs sorgt, hat die Stadt in diesem Jahr ziemlich beschäftigt. Blicke über den Tellerrand spielten dabei kaum eine Rolle. Dabei wird geschätzt, dass eine Milliarde Ehen weltweit zwischen Verwandten bestehen. Die häufigste, aber beileibe nicht die einzige Form ist die Cousin-Cousinen-Ehe. Oft wird sie mit dem Nahen und Mittleren Osten in Verbindung gebracht. Aber sie ist im südlichen Afrika und in Asien, sei es Indonesien oder Bangladesch, ebenfalls verbreitet. Vor allem im ländlichen Raum bestehen Partnerschaften gehäuft zwischen Verwandten.

Warum das so ist, darauf gibt nicht die eine Antwort. Laut Soziologen kann man die ursächlichen Faktoren aber durchaus auf einen Nenner bringen: ein ganz anderes Leben – sozial, ökonomisch, kulturell.

Verwandten-Ehen sind vor allem in Ländern häufig, in denen es wenig wohlfahrtsstaatliche Institutionen gibt und kaum verlässliche soziale Strukturen existieren. „Die Großfamilie ist dann der einzige materielle und gesundheitliche Schutz für den Einzelnen“, sagt die Anthropologin Edien Bartels von der Freien Universität Amsterdam. Bartels erforscht die Verwandten-Ehe in Marokko und unter marokkanischen Migranten in den Niederlanden.

Es bliebt in der Familie

Der Familienclan übernimmt ihr zufolge in Marokko überlebenswichtige Funktionen, die hierzulande das Gesundheitswesen und der Sozialstaat trägt. „Bricht man sich ein Bein, wäre man ohne die Hilfe der Familie in Marokko von Tod und Hunger bedroht“, sagt Bartels. Schon aus rein logistischen Gründen kann man dann auf die weitläufigen Familie angewiesen sein. Nur wenn jemand aus der Verwandtschaft ein Motorrad oder ein Auto besitze, komme man einigermaßen sicher und zeitnah ins nächste Krankenhaus. „Genauso ist es bei der Geburt“, nennt Bartels ein anderes Beispiel. „Man kann nicht darauf zählen, dass ein Taxi verfügbar ist, dass es überhaupt kommt und schon gar nicht, dass es eine Frau hochschwanger mitnimmt.“ Geschätzte 30 Prozent der Ehen in Marokko sind Verwandtenarrangements.

Ein funktionierendes Rettungswesen gibt es in vielen Ländern mit nennenswerten Anteilen an Verwandten-Ehen wie Marokko, Ägypten, Pakistan oder Nigeria nicht. Wer keiner Arbeit nachgeht oder alt und krank ist, lebt – natürlich – von der Familie. Die Großfamilie teilt üblicherweise Geld, Brot und Besitz untereinander. Eine Liaison innerhalb der Familiensippe stärkt so gesehen die existenziellen Bande und den Zusammenhalt. Auch hält sie den Besitz innerhalb des Clans. Sogar Mitgift und Brautgeld verlassen die Familie nicht.

Historisch gesehen entstand die Verwandten-Ehe in landwirtschaftlich geprägten Kulturen. Sie war also in vorindustrieller Zeit vielerorts wahrscheinlich eher Regel als Ausnahme. Auch in Europa war sie gang und gäbe. Familien lebten schlicht über Generationen in ein- und demselben Dorf. Das „Angebot“ an potenziellen Heiratspartnern im passenden Alter waren meist begrenzt. Und ein Verlust des Ackers, kostbarster Besitz eines Bauern, sollte im Erbfall möglichst vermieden werden. Die Heirat innerhalb des Familienclans war eine Möglichkeit, dies zu gewährleisten.

Wenn schon verlieben, dann in den Cousin

Das Motiv der Sicherung von Ländereien hat zwar an Bedeutung verloren. Denn auch in bezüglich Verwandten-Ehen einigermaßen gut untersuchten Gesellschaften wie denen in Marokko, Indien oder Pakistan hat die Verstädterung rasant zugenommen. Die Anthropologin Mary Shenk von der University of Missouri erwartete eigentlich aufgrund dieses ökonomischen Wandels einen Rückgang der Verwandten-Ehe in Bangladesch. Allerdings sprechen die von ihr und Kollegen erhobenen Zahlen eine andere Sprache. Sie scheinen konstant zu bleiben. Jede sechste Hochzeit ist dort ein Arrangement unter Verwandten. Laut Shenk hat das Ideal der romantischen Liebe dort zwar Konjunktur, scheint aber gewissermaßen eine Ehe mit dem früheren Ideal einzugehen, im Sinne von: Verlieben ja, aber wenn möglich in den Cousin.

Die Ehe mit einem Fremden jedenfalls gilt dort, wo Verwandten-Ehen noch immer häufig vorkommen, nach wie vor als Unwägbarkeitsfaktor – nicht nur ökonomisch, sondern auch auf sehr persönlicher Ebene: Mit der Heirat wechselt die Frau in das Haus des Mannes. Sie lebt nun meist auf engstem Raum mit der Schwiegermutter und der Großfamilie des Mannes zusammen. Kommt es zu Konflikten, kann sich das als Verhängnis herausstellen, ja zum Gefängnis werden: Die zugezogene Frau ist umgeben von der Familie des Mannes, die tendenziell eher zu ihm als zu ihr halten wird. Kennen sich die Ehepartner dagegen von langer Hand, weil sie derselben Sippe angehören, ist der Umzug in das Haus des Mannes zumindest mit weniger Risiko verbunden. „Auch können die Angehörigen der Familie bei einem Streit viel leichter vermitteln, weil sich eben ihre und seine Eltern kennen, weil sie zur selben Sippe gehören und aus finanziellen und materiellen Gründen auch miteinander auskommen müssen“, sagt Bartels.

Wie bedeutsam solche Einflüsse sind, belegen einzelne soziologische Studien, wonach etwa indische Frauen in blutsverwandten Partnerschaften weniger häuslicher Gewalt ausgesetzt waren. „Die Verwandten-Ehe kann einen Vorteil für die Gesundheit und Autonomie der Frau mit sich bringen“, sagt der international bekannte Verwandteneheforscher Alan Bittles. Allerdings gehen die Ergebnisse der Studien in diesem Punkt auseinander. Denn viele der neueren Erhebungen können den Befund, dass häusliche Gewalt in Verwandten-Ehen seltener ist, nicht bestätigen. Der Glaube, dass die Frau so besser geschützt ist, scheint aber in den jeweiligen Kulturen eine der Motivationen zur Verwandten-Ehe zu sein.

Gesellschaftliche Normen… andere

Bartels benennt noch einen anderen Grund für die Heirat innerhalb der Familie: In Marokko wie auch in anderen arabischen Staaten werden die Kinder bei einer Scheidung häufig dem Mann zugesprochen und leben fortan bei ihm. Die Scheidungsrate liegt in Marokko bei 50 Prozent. „Wenn die Frau derselben Sippe angehört, kann sie ihre Kinder trotzdem aufwachsen sehen und umsorgen“, sagt Bartels. Auch deshalb favorisierten einige die Heirat mit einem Verwandten.

In einigen Kulturen – etwa in Pakistan mit einem Verwandten-Ehen-Anteil von über 50 Prozent – ist ein Partner aus der eigenen Sippe sogar soziale Norm. Denn es ist das weithin dominierende Modell. Für junge Menschen besteht dann sogar ein gewisser sozialer Druck, sich mit einem oder einer Verwandten zu liieren.

Wie weitreichend solche Wertvorstellungen sind, erfuhr der Gesundheitswissenschaftler Neill Small von der Universität Bradford, als er frisch verheiratete pakistanische Paare, die in Bradford leben, befragte. Etwa die Hälfte war miteinander verwandt, die andere nicht. Jene, die gemeinsam einer Großfamilie angehörten, berichteten von mehr Unterstützung aus der Familiensippe und mehr Wohlwollen. Sie gaben häufiger an, glücklich zu sein. „Das deutet auf einen gesundheitlichen Vorteil für verwandte Ehepaare aufgrund gesellschaftlicher Normen hin“, sagt Small. Der kulturell bedingte Werte-Mikrokosmos besteht also offenbar auch in der Diaspora fort. „Wir prüfen derzeit, ob verwandte und nicht verwandte Paare in Bradford sich nach acht Jahre Ehe in ihrer seelischen Gesundheit unterscheiden.“

Darwins Sorgen

Die Verwandten-Ehe stammt auch aus einer Zeit, in der die romantische Liebe selbst in Europa in den Lebenswelten der Menschen, egal ob reich oder arm, kaum eine Rolle spielte. Noch vor 150 Jahren waren Ehen meist primär Zweckgemeinschaften. Unter Adeligen kamen sie aus Standes- und Besitzgründen zustande. Unter einfachen Leuten galt schlicht: Der Mann ernährt, die Frau nährt die Kinder. In Ländern, in denen Lebensumstände gegenwärtig so prekär sind, dass die materielle und gesundheitliche Versorgung immer wieder bedroht ist, spielt die romantische Liebe in der Anbahnung von Ehen nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Lieblos sind diese Beziehungen deshalb trotzdem nicht unbedingt. Bartels hat in Marokko immer wieder über einen Satz aus dem Mund von Männern und Frauen gestaunt: „Bei uns kommt die Liebe nach der Heirat“, sagten sie. Und Small berichtet über seine pakistanischen Probanden, dass diese oft beklagten, er als westlicher Forscher verstünde schlicht ihre Motive nicht: „Sie sagen, wir sprächen nur über die Risiken, sie fühlen sich stigmatisiert – und das stimmt ja auch.“

Die Risiken sind allerdings real. Zugewanderte, die einen Verwandten ehelichen, werden in Europa vor allem auf ein um drei bis sechs Prozent erhöhtes Risiko für rezessiv vererbte Fehlbildungen und Krankheiten des Nachwuchses hingewiesen – und auch dafür, dass ein Säugling stirbt. Schon Charles Darwin wusste das. Er war besorgt, heiratete, nachdem eine romantische Jugendliebe zerbrochen war, aber trotzdem seine Cousine Emma, mit der er zehn Kinder zeugte.

Die gesundheitlichen Folgen für die Kinder sind auch in Ländern wie der Türkei und Marokko ein Thema. In dem Maße, in dem die Bildung besonders der Frauen wächst, die Verstädterung und die Mobilität zunimmt, geht der Anteil an Verwandten-Ehen zurück. Auch werden die Familien in Ländern wie Marokko und Ägypten kleiner, weil Verhütungsmittel breiter verfügbar sind. Die Ehe innerhalb der Sippe verliert dadurch an Bedeutung – auch, weil sich schlicht seltener Cousin oder Cousine passenden Alters finden.

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