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Wissen und Technik - 08.05.2019

Die dicken Leute vom Lande

Eine neue Studie widerlegt nach Meinung der Autoren die bisherige Annahme, dass es der städtische Lebensstil ist, der dick macht.

Body-Masse. Fettreserven sind sinnvoll, aber auch problematisch.

Wenn man als Wissenschaftler eine wissenschaftliche Studie in einem wichtigen Wissenschaftsmagazin publizieren will, gibt es ein bewährtes narratives Grundmuster: Bisher dachten alle, es ist so, aber wir haben herausgefunden, dass es genau umgekehrt ist. Und das ändert alles. Das Gleiche gilt natürlich für die Öffentlichkeitswirksamkeit solcher Forscherfunde: Mann beißt Hund ist eine Nachricht, Hund beißt Mann eher nicht.

Macht Landluft dick?

Majid Ezzati vom Imperial College in London und seine Kollegen haben sich daran jetzt gut gehalten. Bei ihnen klingt es so: Bisher galt als sicher, dass ungesundes Übergewicht vor allem mit dem städtischen Lebensstil zu tun hat. Aber wir haben jetzt herausgefunden, dass die Leute vor allem auf dem Lande dicker werden, das Übergewichtsproblem also vor allem dort liegt und auch seine Ursachen hat.

Für ihre jetzt in „Nature“ veröffentlichte Analyse waren sie wirklich fleißig. Sie nutzten mehr als 2000 Studien, für die mehr als 112 Millionen Menschen zwischen 1985 und 2017 gewogen und ihre Körpergröße gemessen wurde. Daraus kann man den „Body-Mass-Index“ (BMI) errechnen. Die Formel lautet: BMI gleich Gewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße. Je höher der BMI, desto massiger der Mensch. Je niedriger, desto dürrer. Ezzati und seine Kollegen fanden aber nicht, dass seit 1985 fast überall der Durchschnitts-BMI gestiegen ist. Das war längst bekannt. Ihre Datenanalyse zeigt, dass er in ländlichen Gegenden genauso stieg wie in Städten, teilweise sogar stärker. In den reicheren Ländern ist er auf dem Land höher als in der Stadt.

Der zweifelhafte BMI

Die Forscher präsentieren das als überraschenden Nachweis, dass die Annahme, der so genannte „urbane Lebensstil“ sei „für die globale Fettleibigkeitsepidemie hauptverantwortlich“, falsch sein muss. Das hieße im Umkehrschluss: Ein „ländlicher Lebensstil“ – zumindest der, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat – macht noch eher dick als der städtische, und mindestens genauso krank.

Wenn man aber genauer hinsieht, ist alles doch ein bisschen komplexer. Es beginnt damit, dass der BMI zwar ein bequemes und weit verbreitetes Maß für vermeintlich gesunde und ungesunde Körperkonstitution ist, aber eben doch nicht der ideale. Denn auch Muskeln steigern den BMI, und gut durchtrainierte Männer etwa geraten gerne einmal in Bereiche, die schon als fettleibig gelten. Es könnte also durchaus sein, dass ein Teil der BMI-Zunahme so zu erklären ist – vielleicht auch nicht, aber die Daten geben eine Antwort darauf jedenfalls nicht her. Zudem ist in vielen Fällen der gemessene BMI-Anstieg – selbst wenn nicht nur Muskeln das Mehr an Gewicht ausmachen – alles andere als ungesund. Bei Männern etwa zeigten den niedrigsten Durchschnitts-BMI im Jahr 1985 auf dem Lande lebende Äthiopier. Die Älteren unter uns erinnern sich noch, was 1984/85 fast täglich Hauptthema in den Nachrichten war: die Hungerkrise im Nordosten Afrikas. Dass der BMI dort inzwischen deutlich jenseits der damaligen dürren 18 liegt, hat jedenfalls nicht unbedingt etwas mit einer Fettleibigkeitsepidemie zu tun. Mehr BMI bedeutet nicht unbedingt krankhaft dick.

Good Calories, Bad Calories

Majid Ezzati allerdings sagte dem Tagesspiegel, vielerorts sei der Trend eben immer weiter zu höheren BMIs gegangen, vor allem in den ländlichen Gebieten von Staaten mit mittlerem Einkommen wie etwa Chile oder Mexiko. Dort und auch in reicheren Ländern wie etwa den USA sei es auf dem Lande unter anderem schlicht schwerer, sich bewusst gesund zu ernähren, weil die Lebensmittelauswahl geringer sei, ebenso das Durchschnittseinkommen. Zudem gebe es vielerorts in ärmeren Ländern spezielle Programme, um sicherzustellen, dass die ländliche Bevölkerung genug zu essen hat: „Da geht es aber fast immer nur um Kalorien, nicht um qualitativ gute Nahrungsmittel.“

Was seine Datenauswertung aber vor allem zu sagen scheint, ist, dass das, was als „städtischer Lebensstil“ bezeichnet und ohnehin eher schwammig definiert ist – etwa weniger Bewegung, aber mehr Kalorien als früher – mit Städten eigentlich nichts zu tun hat. Schließlich gibt es Sofas, Autos, TV, Fast Food und Coca-Cola auch auf dem Lande. Wie ernährungsbedingtes Untergewicht ist ernährungsbedingtes Übergewicht eben vor allem ein sozio-ökonomisches Phänomen. Und das ist wirklich keine neue Erkenntnis.

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