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Politik - 11.11.2018

SPD sucht sich selbst: „Mach‘ mal was Spannendes“

Acht regionale Debattencamps sollen die programmatische Erneuerung der SPD weiterführen.

Von Jürgen Wutschke


Die SPD will ihre Erneuerung beschleunigen. Ein Debattencamp in Berlin soll die inhaltliche Neuausrichtung wesentlich voranbringen. Am Ende ist der Teamgeist gestärkt. Die Liste der Aufgaben ist indes kein Stück kürzer geworden.

Gemessen am Applaus bei der Auftaktveranstaltung des SPD-Debattencamps ist die Rettung der schwer angeschlagenen Partei recht simpel: Justizministerin Katarina Barley muss in die erste Reihe. Die Welt muss grundlegend umgebaut werden. Die Hartz-IV-Gesetzgebung gehört abgeschafft. Europa steht über allem. Und für die gute Stimmung sollte Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras ab und an vorbeischauen. Doch zwei Tage mit gut 60 Diskussionsveranstaltungen zeigen, die Dinge sind deutlich komplizierter.

Der Berliner Stadtteil Oberschöneweide war zu DDR-Zeiten das, was man heute einen mächtigen Industriecluster nennen würde. Mehr als 20.000 Menschen bauten TV-Röhren, fertigten Kabel und vieles mehr. Übrig ist davon kaum noch etwas. Es gibt ein bisschen Mittelstand. In eine gewaltige leere Industriehalle auf dem Gelände des dortigen Funkhauses hat die ebenfalls einst mächtige SPD eingeladen, sich das Ohr auf die Brust zu legen. Wie viel Leben steckt noch in der Partei, die bei den jüngsten Wahlen gerupft wurde und im kommenden Jahr in zwei Ländern um die Zehn-Prozent-Marke kämpfen muss? Nach Dutzenden Reden, Debatten, Konfrontationen und Selbst-Vergewisserungen ist klar: Ziemlich viel.

"Brandgefährlich, das in die Welt zu setzen"

"Es ist an der Zeit, die Dinge zu ändern", sagt Nahles zu Beginn. "Wir beginnen hier, die Zukunft zu verbessern." Ganz nach oben auf die Liste hat sich die Partei dabei die Agenda 2010 gesetzt. "Hartz IV ist der Mühlstein an unserem Hals", sagt bei der entsprechendes Debatte die Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe. Dieses System habe "Menschen klein gemacht".

Der Einspruch kommt prompt und er kommt aus den eigenen Reihen. Die Partei soll "keine Erwartungen wecken, die sie nicht einlösen kann", sagt der frühere Hamburger Sozialsenator Detlef Scheele, der inzwischen die Bundesagentur für Arbeit (BA) leitet. Das System sei nicht so schlecht, wie es geredet werde. Vieles laufe "besser als wir denken". Die Partei soll nicht die "System-, sondern die Gerechtigkeitsfrage stellen", sie soll lieber Reformen als die Abschaffung angehen. Doch Generalsekretär Lars Klingbeil hat die Marschrichtung vorgeben: Hartz IV wird abgeschafft. "Ich halte es für brandgefährlich, dass in die Welt zu setzen", sagt Scheele. Weder Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller noch Nahles könnten ihm sagen, was nach Hartz IV kommen solle. Von einer Partei in Regierungsverantwortung erwarte er mehr.

Unter großem Applaus wird Nahles am Ende der zwei Tage nichtsdestotrotz eine umfassende Reform fordern. Die Parteiführung hat längst das Stichwort gesetzt: Sozialstaat 2025. "Wir werden Hartz IV hinter uns lassen." Dazu gehören Bürgerversicherung und neue Grundsicherung. Sie habe "das Gefühl, die SPD will uns klarmachen, was sie will und wir sollen es gut finden", sagt Ina Han aus Hamburg zum Debattencamp.

Tsipras liest Sozialdemokratie die Leviten

Gut finden alle Europa: Europa sei die Antwort auf viele Probleme der Welt, sagt Nahles zum Auftakt. "Unserer Werte, unserer Freiheit, unser Europa – dafür kämpfen wir." Der Forderung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach einer europäischen Armee pflichtet sie bei. Dann haben Griechenlands Tsipras und Portugals Ministerpräsident António Costa ihren Auftritt. Letzterer präsentiert sich als Linker, der dem von Europa geforderten Spardiktat zur Haushaltssanierung eine erfolgreiche Alternative entgegengesetzt hat. Obendrein schmeichelt er der SPD reichlich. Den Gefallen tut Tsipras der Partei nicht. Im Gegenteil.

Stattdessen erinnert er, dessen Rede per TV in die Heimat übertragen wird, daran, nie seine Wählerschaft aus den Augen verloren zu haben. Man müsse die Folgen aller Entscheidungen auf die eigene Klientel kennen, erklärt der griechische Premier. Der Schritt in die Mitte habe die Sozialdemokratie in Europa von ihrer Klientel entfernt. Die Linke scheine ihre soziale Basis zu verlieren und in diese Lücke stießen die Demagogen. Nun müssten "alle linken progressiven Kräfte" in Europa ihre Differenzen überwinden und an einem Strang ziehen. Der wegen Überfüllung geschlossene Saal quittiert beide Auftritte mit stehenden Ovationen.

"Ich will euch enablen"

Noch so ein kompliziertes Ding ist die Digitalisierung. "Wenn es um den digitalen Kapitalismus geht, müssen wir die Machtfrage stellen", sagt Nahles zum Auftakt. "Wer hat das Sagen?" Sehr viel größer lässt sich das Thema nicht anpacken. "Wir sollten sagen, dass niemand auf der Strecke bleibt", meint dagegen Klaus Prepens aus Essen beim Kaffee. "Niemand muss sich vor der Digitalisierung fürchten", sagt BA-Chef Scheele einen Tag später.

Irgendwann dazwischen gibt es die dazugehörige Diskussionsrunde. Das Wort hat Isabell: "Ich bin best practice. Ich will euch enablen. Ich bin 15 Stunden am Tag online", sagt die 27-jährige Beraterin zum Auftakt. "Ich teste Tools, aber nur als verlängerten Arm". Wer bislang keine Angst vor der Digitalisierung hatte, hat sie jetzt. Eindeutig eine digitale Vorreiterin, erklärt eine Expertin. Die meisten seien aber digitale Mithalter. Übrig blieben die digitalen Außenseiter. Arbeitsminister Hubertus Heil und Rheinland-Pfalz' Ministerpräsidentin Malu Dreyer stecken währenddessen die Köpfe zusammen. Und was heißt das für den arbeitenden Bürger?

"Die einen Studien sagen so, die anderen so", beginnt Heil. Er gehe davon aus, dass bis 2025 gut 1,3 Millionen Jobs verschwinden und 2,3 Millionen neue entstehen. Zu regeln seien deswegen Weiterbildungen, deren Finanzierung und ihre gesellschaftliche Aufwertung. Denn lebenslang Lernen dürfe nicht wie lebenslang Knast klingen. Die Sozialdemokratie müsse die "Leute begleiten und versprechen, niemand fällt durch den Rost", sagt Dreyer. Dann verweist sie auf mehr Bildung in Kitas und Schulen. "Wir brauchen andere Fähigkeiten." Abseits des Podiums filmt derweil ein junges Mädchen ihren Freund mit dem Handy: "Los, mach' mal was Spannendes", flüstert sie.

"Wie kann man so doof sein"

War es nun spannend? Zwei europäische Ministerpräsidenten hat sich die SPD eingeladen. Zudem mehr als 200 Referenten. 3400 Parteimitglieder und Gäste sind nach Berlin gekommen. Sehr produktiv, sagen viele von ihnen. Eine gute Mischung aus Workshops und Podiumsdiskussionen. Er sei sehr angetan vom Mobilisierungseffekt, sagt Klaus Prepens. Er fühle sich an die Aufbruchsstimmung  erinnert, die damals mit Martin Schulz einherging, sagt Torsten Rekewitz aus Pulheim. Auf dem Camp wechselten die Informationen zwischen Ortsverein und Parteiführung in beiden Richtungen hin und her, sagt der Politikstudent Lennart Hegemann aus Oelde. Die SPD ist lebendig. Die SPD ist diskussionsfreudig, sagte Nahles zum Abschluss. Und warum ist dann jede Umfrage ein neuer Magenschwinger?

Das sei die "Eine-Million-Euro-Frage", sagt Student Hegemann. Die Betonung von Europa sei wichtig. Doch darüber bilde die SPD das Nationale nicht ab. Die Sozialdemokratie nehme die Abstiegsängste der Menschen nicht wahr. Es brauche eine Initialzündung, keine Revolution, sagte Prepens. Die SPD soll die GroKo fortführen. Rekewitz findet indes, dass sich die Partei zu viel mit sich selbst beschäftige. Es fehle an Inhalten.

Die SPD könnte etwas stolzer sein auf ihre Leistungen und diese entsprechend verkaufen, heißt es mehrfach. Im Workshop zur Sprache der Partei geht der Blick nach Österreich. Die SPÖ hat dereinst nach einem Jahr Regierungsarbeit großflächig ihre Erfolge im Land plakatierte. Das wäre doch mal was.

Am vergangenen Donnerstag übrigens – zwei Tage vor dem Debattencamp – hat der Bundestag das Teilhabechancengesetz verabschiedet. An jenem Tag aber platzierte Generalsekretär Klingbeil seine Ankündigung, die SPD werde Hartz IV abschaffen. "Wie man so doof sein kann, ist mir ein absolutes Rätsel", sagt BA-Chef Scheele.

Das Gesetz hilft Firmen, Langzeitarbeitslose einzustellen. Haben diese sechs Jahre Grundsicherung erhalten, finanziert der Staat die neue Stelle für fünf Jahre – und zwar auf Tarifniveau. Mehr als vier Milliarden Euro stehen dafür bereit. Das Geld reicht für Tausende Betroffene. Diese Reform des Sozialgesetzbuches II sei der "der größte Erfolg" für das SPD-geführte Arbeitsministerium in dieser Legislatur, sagt BA-Chef Scheele. Er habe acht Jahre darum gekämpft. Gesprochen hat nach der Klingbeil-Ankündigung darüber kaum einer.

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