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Politik - 30.10.2018

Leitfigur verzweifelt gesucht: Merkel hinterlässt ein kraftloses Europa

Angela Merkel galt in der Europäischen Union als Konstante.

Von Judith Görs


Kanzlerin Merkel läutet ihren Rückzug aus der Politik ein – und überrascht nicht nur Deutschland, sondern die gesamte Europäische Union. In Brüssel wächst die Sorge vor einem Zerfall der Staatengemeinschaft. Unklar ist, wer das neue Vakuum füllt.

Ausgerechnet 2015 – im Flüchtlingsjahr – erscheint das US-Magazin "Time" mit dem Porträt der deutschen Regierungschefin auf der Titelseite. "Angela Merkel, die Kanzlerin der freien Welt", titelt das Blatt. Eine Krönung, die Chefredakteurin Nancy Gibbs in erster Linie mit der Reaktion der Deutschen auf die Griechenland- und die Migrationskrise erklärt – aber nicht nur damit. Gibbs verweist in ihrer Begründung auch auf den Wertekanon Merkels. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeige die Kanzlerin, "wie die große Stärke Deutschlands zum Retten statt zum Zerstören genutzt werden kann". Nicht nur in der Bundesrepublik hat Merkel lange Jahre den Ton angegeben – auch in Europa und in der Welt hat sie ihn mitbestimmt. Nun ist ihr Abgang absehbar. Und während in Berlin plötzlich eine rotwangige Aufgeregtheit herrscht, schrillen in Brüssel die Alarmglocken. Denn Merkel hinterlässt ein Vakuum.

Äußerlich bleibt es nach Merkels überraschender Bekanntgabe ihres Rückzugs am Montagmittag ruhig – erst am Abend telefoniert EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker mit der Kanzlerin. Beide kennen sich gut. Worte des Bedauerns angesichts des Rückzugs aber hört man von Juncker nicht. Für eine Erklärung braucht er einen ganzen Tag. Dann heißt es schließlich, für den Präsidenten ändere sich nichts. Merkel und Deutschland "bleiben einflussreiche Akteure des europäischen Projekts und darüber hinaus". Die Bombe wird zum Bömbchen deeskaliert. Doch hinter den Kulissen macht sich die Sorge breit, dass mit Merkel ein weiterer wichtiger Stabilitätsfaktor in Europa wegbricht – und das in ohnehin schwierigen Zeiten. Im Streit um den Brexit, Italiens Haushalt oder den Rechtsruck in Polen fehlt künftig eine starke Stimme. Das fürchten viele. Sie prophezeien der Kanzlerin auf Abruf einen Autoritätsverlust.

Schon zuvor fiel es Brüssel zunehmend schwerer, in strittigen Fragen – etwa der Verteilung von Flüchtlingen – genügend Druck auf die Mitgliedsstaaten auszuüben. Mit Merkel verliert die EU nun eine mächtige Fürsprecherin der gesamteuropäischen Idee. Auch wenn ihre Vermittlungsversuche (gerade in der Asylfrage) zuletzt wiederholt scheiterten, ihre Stimme wurde auch in Ungarn, Tschechien und Polen gehört. Vielleicht gerade auch deshalb, weil ihre eigene Biografie mit der von vielen Menschen in den ehemaligen Ostblockstaaten verbunden war. "Wer wird uns so verstehen wie Merkel?", fragte die linksliberale polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza". Die Kanzlerin beruhigte vor allem jene Europäer, die sich nicht in den Kokon der Nationalstaatlichkeit zurückziehen wollen. Nun können sie nur hoffen, dass ihr ein ebenso glühender Europäer nachfolgen wird.

Geschwächte Verbündete

Zeigten auf europäischer Ebene zumindest in die gleiche Richtung: Emmanuel Macron und Angela Merkel.

Die Namen Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn und Friedrich Merz sind bisher große Unbekannte. Kaum jemand in Brüssel kennt die politische Linie der drei Kandidaten – und möglichen künftigen Kanzlerkandidaten. Gibt es ein "Weiter so" mit AKK? Oder schwierige Zeiten mit Spahn – allein schon wegen dessen Freundschaft zu Österreichs Kanzler Sebastian Kurz? Jedes Szenario scheint derzeit möglich. Im Moment überwiegt jedoch die Sorge, der Kampf um die Merkel-Nachfolge könnte die deutsche Entscheidungsfreudigkeit auf EU-Ebene dauerhaft lähmen. Schon während der quälend langwierigen Regierungsbildung nach der Bundestagswahl musste Brüssel auf Deutschland warten. Dabei drängt die Zeit. Denn die EU muss sich reformieren – sowohl im Wirtschafts- als auch im Sozialbereich.

Der Fahrplan dafür steht bereits. Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben sich im Sommer auf ein groß angelegtes Reformpaket geeinigt. Verbündete unter den EU-Mitgliedern zu finden, gestaltete sich bisher allerdings schwierig. Nicht nur in den baltischen Staaten sieht man die deutsch-französischen Alleingänge mit wachsendem Unmut. Doch die Erfahrung hat auch gezeigt, dass sich – wenn Frankreich und Deutschland nicht vorpreschen – gar nichts bewegt. Entsprechend emotional fällt deshalb die Reaktion aus dem Elysée-Palast auf den Rückzug Merkels aus. "Sie hat niemals vergessen, was Europas Werte sind", sagte Macron. Angesichts des Aufstiegs rechter Kräfte in Europa habe ihre Entscheidung "nichts Beruhigendes". Dem Franzosen kommt eine der letzten Verbündeten abhanden.

Kann Macron Europa führen?

Im Alleingang kann Macron seine ehrgeizigen Reformpläne kaum durchboxen. Das weiß er. Auf lange Sicht wird er sich neue Mitstreiter suchen müssen. Ob er – wie viele jetzt hoffen – die freiwerdende Führungsrolle in Europa übernehmen kann, ist derzeit aber unsicherer als noch vor 17 Monaten. Denn Frankreichs Präsident ist schwer angeschlagen im eigenen Land. Schlechte Umfragewerte machen ihm ebenso zu schaffen wie etliche Ministerrücktritte und die Prügelaffäre um seinen Sicherheitsberater Alexandre Benalla. Kurzum: Daheim gibt es derzeit genügend Baustellen. Da ist Europa erst einmal weit weg. Nutzen könnte das Vakuum, das Merkel hinterlässt, vor allem den Rechten. Im kommenden Mai wählt Europa ein neues Parlament – und seine Kritiker bringen sich bereits in Stellung.

Schon Anfang Oktober starteten Italiens Innenminister Matteo Salvini und die Chefin der französischen Rechten, Marine Le Pen, eine gemeinsame Kampagne. Ihr Slogan: Weg mit dem Brüsseler Bunker! Weg mit den wahren Feinden Europas! Und ihre Chancen auf Erfolg stehen keineswegs schlecht. Auch wenn es noch keine Prognosen für die Europawahl gibt, lassen die Ergebnisse der jüngsten Nationalwahlen in Italien, Schweden und Ungarn vermuten, dass die Furcht vor einem Rechtsruck im EU-Parlament nicht ganz unberechtigt ist. Brüssel klammert sich deshalb an die Hoffnung, dass Merkel die drei Jahre ihrer letzten Kanzlerschaft vollmacht. Das Vertrauen in die Kanzlerin, sagt EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger, sei ungebrochen – "von Sofia bis Lissabon, von Dublin bis Athen."

Das klingt kraftlos. Und es sagt viel aus über die Gemütslage in Brüssel. Den Gegnern Europas mag mit Merkel zwar ein Feindbild abhanden kommen, seinen Verfechtern allerdings könnte bald eine Leitfigur fehlen. Die Frage ist, was schwerer wiegt. "Wir werden Angela Merkel nachtrauern", schrieb die italienische Zeitung "Corriere della Sera". "Wir Europäer, die ihr Zögern erlebt haben, aber auch ihre Fähigkeit, immer das Richtige zu machen, wenn es angebracht war und es keine Alternative gab."

Judith Görs ist Redakteurin und Chefin vom Dienst am Newsdesk von n-tv.de und berichtet für die Politik vor allem über Frankreich.

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