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Politik - 27.10.2018

Die US-Krankenversicherungslücke: Wer zu viel arbeitet, bekommt nichts

Sara Lee hat keine Krankenversicherung. Sie verdient zu wenig und zu viel zugleich.

Von Roland Peters, Joplin


Die Krankenkassenkosten in den USA sind fast doppelt so hoch wie in Deutschland, zugleich sinkt die Lebenserwartung. Missouri ist rigoros: Der Bundesstaat versagt einkommensschwachen Menschen Hilfe. Es könnte noch schlimmer kommen.

Selbst für den Drogenentzug ihrer Tochter zahlen kann Sara Lee nicht. Also ist sie in die Klinik gefahren. Hier bei Access Family Care kann die Beraterin der Mutter sagen, wie sie Medicaid, die Krankenversicherung einkommensschwacher Familien, für ihre suchtkranke 15-jährige Tochter beantragen kann. Der Chef der Tankstelle, wo Sara Lee stattdessen gerade hinter der Kasse stehen sollte, könnte die 34-Jährige, blaue Jeans und bunte Pantoffeln, deshalb feuern. "Es ist nicht fair", sagt sie kopfschüttelnd. Dann schlägt sie das eine Bein über das andere, richtet ihre Sonnenbrille auf den getönten Haaren und guckt durch die Glastüren hinaus auf den weitläufigen Parkplatz. "Ich weiß nicht, was passieren wird", sagt Sara Lee mit einem angestrengten Lächeln. Auf ihrem pinken T-Shirt steht "REALFREE", wirklich frei.

Ein knappes Dutzend Menschen sitzt auf den gepolsterten Stuhlreihen im Empfangsbereich der Poliklinik in Joplin. Eine gemeinnützige Organisation wie die im Südwesten Missouris ist für viele die einzige Möglichkeit, sich behandeln zu lassen; sie ist auf einkommensschwächere Patienten spezialisiert. Der US-Bundesstaat im Mittleren Westen ist rigoros: Nur Minderjährige bekommen bedingungslos das staatliche Medicaid. Ein Erwachsener hat nur Anspruch, falls er weniger als 192 Dollar pro Monat verdient. Verfügt eine Familie über mehr als 31.000 US-Dollar im Jahr, ist sie verpflichtet, sich zu versichern. Bei wem beides nicht zutrifft, hat weder Medicaid noch Geld, um eine Versicherung zu bezahlen.

In dieser Kluft hängt Sara Lee. In der Tankstelle verdient sie 320 US-Dollar pro Woche. Verlöre sie ihren Job, wäre sie zwar fast mittellos, ihre Gesundheitsversorgung aber zumindest gesichert. Ein Dilemma, das nur der Staat, kein Betroffener auflösen kann. "Sara, kommen Sie?", ruft es aus dem Büro. Ihre 15-jährige Tochter wurde von der High School in eine Entzugsklinik geschickt, sie kifft zu viel. Nun muss sie sehen, wie sie die Behandlung finanziert, sagt Sara Lee und verabschiedet sich. Jeder Bundesstaat regelt Medicaid selbst. Manche schließen die Lücke teilweise oder, wie Missouri, gar nicht.

Von der Bevölkerung Missouris waren im vergangenen Jahr 12,5 Prozent, also rund 760.000 Menschen ohne Krankenversicherung. In den USA waren es 12,2 Prozent, rund 40 Millionen. Zugleich ist in den vergangenen zwei Jahren die Lebenserwartung in den USA zweimal in Folge zurückgegangen. Zuletzt war das in den Jahren 1962-63 der Fall. Die Zahlen sind weiterer Ausdruck eines jahrzehntelangen Trends: Früher wurden Menschen in den Vereinigten Staaten älter als in Deutschland, doch seit Mitte der 1980er Jahre gibt es eine gegensätzliche Entwicklung. Die Lebenserwartung liegt inzwischen bei 78,3 Jahren und damit eineinhalb Jahre unter dem Schnitt der OECD-Staaten und fast zweieinhalb unter dem deutschen.

Das hat auch mit der Betäubungsmittelkrise, den Opioiden in den USA zu tun, aber nicht nur. Es gebe eine alarmierende Steigerung von Todesfällen aufgrund von Medikamentenmissbrauch und Verzweiflung ("despair"), stellte eine Studie des British Medical Journal (BMJ) fest. Die Ursachen sind laut einem Autor "unklar, komplex und nicht nur durch Opioide erklärbar". Falls die Politik sich nicht darum kümmere, werde die Lebenserwartung weiter sinken, prognostizieren er und seine Mitautoren. "Die Konsequenzen sind schlimm", warnen sie. Nicht nur mehr Todesfälle und Krankheiten sind die Folge, sondern auch explodierende Kosten der Gesundheitsversorgung, kränkere Erwerbstätige und eine weniger wettbewerbsfähige Wirtschaft. "Zukünftige Generationen könnten den höchsten Preis zahlen." Bereits jetzt haben die USA die mit Abstand höchsten Pro-Kopf-Kosten in der Gesundheitsversorgung im Vergleich mit anderen OECD-Ländern; fast doppelt so viel wie in Deutschland, mehr als doppelt so viel wie im Schnitt.

Fatale Sterberaten

Ist für eine flächendeckende Krankenversicherung: Steven Douglas

Im Büro neben dem Haupteingang sitzt der kantige Steven Douglas, ein Ex-Polizist mit kurzgeschorenen Haaren und festem Händedruck. "Die Absicht der Einkommensgrenze ist, Menschen auszuschließen", sagt der Sprecher der Klinik mit raumfüllender Stimme. Joplin hat rund 50.000 Einwohner, die elftgrößte Stadt in Missouri. "Von denen, die grade in unserem Empfangsbereich sitzen, gehören wahrscheinlich etwa drei Viertel zu denen, die von der fehlenden Ausweitung von Medicaid betroffen sind." Das ist wesentlich mehr als in den Einrichtungen von Access Family Care insgesamt. Im Jahr seit September 2017 behandelte die Organisation 25.000 Patienten, rund 7500 davon kamen ohne Krankenversicherung. Dieses Jahr könnten es 30.000 werden.

Access Family Care ist behördlich als Gesundheitszentrum für einkommensschwächere Regionen anerkannt und erhält deshalb Geld vom US-Kongress. Das Kliniknetzwerk arbeitet nach dem Solidaritätsprinzip. Je nach Verdienst dürfen Patienten hier schon ab 30 Dollar Eigenanteil zum Arzt. Die Fehlbeträge gleicht das Kliniknetzwerk mit dem Geld aus Washington aus. Die Finanzquelle kann jedoch jedes Jahr wieder versiegen. Viel lieber würde die Organisation mit Krankenkassen arbeiten, die alle abdecken. "Wir glauben an eine universelle Versicherung", sagt Steven Douglas.

In der Rangliste der schlechtesten Gesundheitsversorgung befindet sich Missouri im letzten Drittel aller Bundesstaaten, vor allem die Krankheits- und Sterberaten sind im Vergleich fatal. Nicht ohne Grund ist Gesundheitsversorgung ein Hauptthema im Wahlkampf um den Senatorenposten. Die demokratische Senatorin Claire McCaskill muss ihren Sitz im Senat verteidigen, falls ihre Partei bei den Kongresswahlen am 6. November eine Chance auf eine Mehrheit haben will. Ihr Herausforderer ist der Republikaner Josh Hawley, der pikanterweise zugleich Oberstaatsanwalt von Missouri ist – und gegen Obamacare vorgeht. Mit dem steuerfinanzierten juristischen Feldzug macht der Anwalt nun Wahlkampf.

Klagt mit anderen republikanischen Staatsanwälten gegen Obamacare: Senatskandidat Josh Hawley.

Hawley klagt gemeinsam mit 17 weiteren republikanischen Oberstaatsanwälten und zwei Gouverneuren am Supreme Court. Ist der 38-Jährige, der sich als Typ frischer Wind mit großem Familiensinn präsentiert, am Obersten Gericht erfolgreich, würde der Affordable Care Act alias Obamacare in den ganzen USA kippen. Versicherungen könnten Menschen wegen Vorerkrankungen ablehnen, unbezahlbare Beiträge verlangen und Medikamentenrabatte für Ältere streichen. Die konservative Richtermehrheit am Supreme Court, mit Brett Kavanaughs höchst polarisierender Berufung zementiert, erhöht dafür die Chancen.

Über die Zukunft der Gesundheitsversorgung wollen in Joplin verschiedene Politiker und solche diskutieren, die bei der Wahl am 6. November auf bundesstaatlicher Ebene antreten. Dorthin, aus der Klinik hinaus, ist es eine viertelstündige Autofahrt auf die andere Seite der Stadt. Etwa 60 Menschen sind in das Veranstaltungszentrum gekommen, größtenteils Frauen und Menschen mit offensichtlichen gesundheitlichen Problemen. Es gibt Kaffee aus der Großküchenkanne, weiche Kekse und eine Gallone trübe Apfellimonade. Daneben hat ein Journalist des lokalen Fernsehsenders seine Kamera in Richtung der acht Kandidaten aufgebaut. Eingeladen zur moderierten Debatte hat die Organisation "Missouri Healthcare for All", "Gesundheitsversorgung für alle".

An der Tafel wird es schnell hitzig. Der ganz links sitzende Bill White ist Republikaner und verteidigt die fehlende Ausweitung von Medicaid und damit auch die Versicherungslücke. Die Verfassung des Bundesstaats schreibe nun einmal einen ausgeglichenen Haushalt vor und es gebe kein Geld dafür. "Das ist schlicht eine Lüge", kontert eine Demokratin vom anderen Ende des Tisches und rechnet die Millionen Dollar an Bundeshilfen vor, die der Republikaner und dessen Mehrheit in seinen acht Jahren als Abgeordneter nicht abgerufen hätten. Einige Anwesende applaudieren und rufen unterstützend. Bill White guckt durch seine randlose Brille sichtlich unzufrieden ins Publikum und dann missbilligend in Richtung Moderatorin. Die fordert die Zuschauer dazu auf, dies doch bitte zu unterlassen.

Angst vor der Rechnung

"Es macht mich wütend." Elizabeth Lundstrum darüber, wie Versicherer in den USA mit ihren Beitragszahlern umgehen.

Die nicht flächendeckende Krankenversicherung hat einen Dominoeffekt. Die einen lassen sich nicht behandeln, weil sie die Rechnungen nicht bezahlen können und riskieren, arbeitsunfähig zu werden. Andere Unversicherte warten, bis sie so krank werden, dass sie in die Notaufnahme gehen. Die Spezialisten mit modernsten Geräten müssen sie dort behandeln, wohlwissend, dass der Patient nicht bezahlen wird. Die Behandlungen in der Notaufnahme und im Notfall sind für die Betreiber viel teurer als sie etwa wären, wenn die Patienten rechtzeitig zu einem Hausarzt gegangen wären. In die Kalkulationen fließen auch die in den USA üblichen Schadenersatzklagen gegen Mediziner und Krankenhäuser ein, deren Millionen Dollar Streitsummen wieder hereinkommen müssen.

Diese Folgen der Versicherungslücke in Missouri führen dann zu juristischen Streits wie mit Anthem, dem zweitgrößten Krankenversicherer der USA. Das Privatunternehmen hatte im Juli 2017 die Kostenerstattung für Notaufnahmepatienten im Bundesstaat neu geregelt. Wegen der hohen Notaufnahmekosten forderte die Krankenkasse ihre Mitglieder zur Selbstdiagnose auf und verweigerte die Zahlung, wenn Prüfer der Ansicht waren, der Versicherte hätte nicht dort behandelt werden müssen. Die Rechnung des Krankenhauses ging an den Patienten. "Ich war so verängstigt, ich wäre nicht in die Notaufnahme gegangen, außer, ich hätte befürchtet, zu sterben", sagt eine Betroffene. Vor wenigen Monaten verbot Missouri die Vorgehensweise von Anthem per Gesetz.

Am Politikertisch in Joplin kommen Elizabeth Lundstrum die Tränen. Die Lehrerin erzählt von ihrer Tochter, die vor Jahren seltsame Symptome zeigte. Wenn die damals 13-Jährige aufstand, wurde ihr stark schwindlig, schlecht oder direkt ohnmächtig. "Neun Monate sind wir von Arzt zu Arzt gerannt, weil wir nicht wussten, was mit ihr los war." Irgendwann schickte ein HNO sie in eine der besten Kliniken der USA, wo Ärzte das seltene Posturale Tachykardie-Syndrom (POTS) diagnostizierten. Um sicher zu gehen, führten sie ein EEG durch. Elizabeth Lundstrum bekam trotz Versicherung eine Rechnung über 6000 Dollar; die Untersuchung sei nicht nötig gewesen, hieß es darauf. Sie zog vor Gericht. Nach 18 Monaten bekam sie Recht.

Das Erlebnis hat die 49-jährige Elizabeth Lundstrum in die Politik getrieben, sie kandidiert erstmals für das Abgeordnetenhaus von Missouri. "Es macht mich wütend, wie sich private Krankenkassen in das Verhältnis zwischen Arzt und Patient einmischen." Noch lehrt sie in 7. Klassen Englisch und Mathe, sie mag es, zu unterrichten. Aber falls Lundstrum ins Parlament einziehen sollte, wäre ihr eine bessere Gesundheitsversorgung wichtiger. Und die Ausweitung von Medicaid im Bundesstaat ein guter Anfang.

Roland Peters ist Autor und Reporter bei n-tv.de. Er befasst sich mit Nord- und Südamerika, Politik, Menschen und Maschinen.

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