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Kultur - 26.01.2019

Japan: Von Manga-Mädchen und singenden Hologrammen

Virtuelle Popstars verzücken in Asien Zehntausende Fans. Der Fotograf Jérôme Gence ist tief eingedrungen in eine Welt, in der viele Männer eine seltsam traurige Rolle spielen.

Sie ist eine Software, und sie sieht gut aus: Hatsune Miku aus Japan ist ein „Vocaloid“, eine künstliche Sängerin, die bei Konzerten als 3-D-Projektion auf der Bühne erscheint.

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Sie hat lange türkisgrüne Zöpfe, schmale Hüften und große blaue Augen. Sie ist 16 Jahre alt und wird es auch immer bleiben, denn ihr Alter gehört neben der Größe (1,58 Meter) und dem Gewicht (42 kg) zu den einzigen Persönlichkeitsmerkmalen, die ihre Erschaffer ihr mitgegeben haben: Hatsune Miku, programmiert 2007 in Japan, ist der berühmteste Stimmroboter der Welt. Eine Art singende „Alexa“ mit dem Aussehen eines Manga-Mädchens.

Marktgerecht designte Popprodukte

Zu Beginn ihrer Karriere war Miku bloß die Werbefigur für die nach ihr benannte Software. Inzwischen gibt sie als animierte 3-D-Projektion selbst Konzerte. 2014 begleitete sie Lady Gaga, vergangenes Jahr tourte der virtuelle Popstar durch Europa. Miku wird nie müde, und ihr Repertoire dürfte weitaus größer sein als das ihrer menschlichen Kollegen: Bereits 2013 hatte sie über 100.000 Songs veröffentlicht. Neuere Zahlen gibt es kaum – ihr Werk wächst ständig weiter. Denn Miku ist Open Source: Jeder darf Lieder für sie schreiben und die Videos ihrer Performance hochladen. Nur nicht zu kommerziellen Zwecken.

Philipp Büttner

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Wenn Hatsune Miku oder ihr chinesisches Pendant, die elfenhafte Luo Tianji, auftreten, füllen sie Stadien. Menschen warten stundenlang vor den Konzerthallen und zahlen Eintrittspreise von mehr als 100 Euro, um ein computeranimiertes Comic-Mädchen zu sehen. Viele sagen, die Figuren seien wie Freundinnen. Und manche sagen, sie seien in sie verliebt.

Der Fotograf Jérôme Gence ist im Juni 2018 auf das Phänomen der virtuellen Popstars gestoßen. Manga- und Anime-Charaktere sind ein fester Bestandteil der japanischen Kultur. So gesehen scheint es nicht verwunderlich, dass singende Hologramme dort angehimmelt werden wie anderswo einst Take That oder Britney Spears: Sie sind marktgerecht designte Popprodukte mit einer beliebig erweiterbaren Palette an konsumierbaren Artikeln und Events. Aber sie sind auch die ersten Stars, bei denen die Fans den Inhalt selbst erschaffen können.

Kein Platz für Gefühle

„Ich war fasziniert davon, wie viele Menschen zu diesen Wesen eine persönliche Beziehung aufgebaut haben“, sagt Gence. „Sie gehören zum Alltag. Gerade weil sie nicht menschlich sind, kann jeder in ihnen das sehen, was er möchte.“ Viele Fans, mit denen Jérôme Gence gesprochen hat, sind männlich und dem Teenager-Alter bereits entwachsen. Was sie erzählen, klingt seltsam traurig: Die Realität erleben sie oft als Enttäuschung. Viel schöner finden sie die virtuelle Welt, weil sie dort noch etwas gestalten können. Gegenüber den künstlichen Mädchen scheinen sie Gefühle zeigen zu dürfen, für die sie sonst in der Gesellschaft keinen Platz finden.

In einem Land wie China ist eine virtuelle Popsängerin ein perfekt kontrollierbares Massenidol. Sie verhält sich, wie es erwünscht ist. Die Konzerte dienten vor allem dem Stressabbau, zitiert Gence einen Veranstalter. Ausrasten ist hier – in Maßen – erlaubt. Und auch die Redefreiheit der chinesischen Luo dürfte sich wohl in Grenzen halten. Anders als die der japanischen Miku, die in ihren Songs keine Tabus kennt.

Jérôme Gence kommt aus La Réunion und lebt in Taiwan und Paris. In seinen Fotoreportagen dokumentiert er, wie neue Technologien den Alltag verändern.

In Japan gibt es ein Wort, das heute als Umschreibung für die Nerdkultur verwendet wird: otaku. Für männliche otakus wird ein besonders ergebenes Fan-Sein oft durch soziale Anerkennung innerhalb ihrer Gruppe belohnt. Das könnte erklären, warum der 35-jährige Japaner Akihiko Kondo vorigen November sogar so weit ging, die virtuelle Miku zu heiraten. Gültig vor dem Gesetz ist die Ehe nicht – aber Kondo ist der erste Mann, der sich mit einem Hologramm vermählt hat. Zu Jérôme Gence, der bei der Hochzeit zugegen war, sagte Kondo: „Als Teenager war ich bei Mädchen nicht beliebt. Nach meinem dritten Jahr an der Highschool beschloss ich, niemals eine Frau zu heiraten.“

Auch in Japan haben viele Männer ein Problem: Frauen sind heute gut ausgebildete Konkurrentinnen im Job und in der Karriere. Einem Wesen wie Miku ist der soziale Status eines Mannes egal. Ob er ängstlich ist oder versagt, interessiert sie nicht. Sie ist immer unschuldig, immer lieb. Sie fordert nichts, sie verlässt nicht. Sie hat kein eigenes Leben, sie existiert nur in der Interaktion – man kann sie abschalten.

„Japanese Robot Culture“

Für den japanischen Kulturwissenschaftler Yuji Sone spiegelt sich in Geschöpfen wie Miku daher auch der Wunsch nach einer kontrollierbaren, zahmen Weiblichkeit. Die Erschaffung einer idealen Frau, die man steuern und dressieren kann, ist ein gängiger Topos in Kunst und Literatur, der sich heute auch in der Computertechnologie wiederfinde, schreibt er in seinem Buch „Japanese Robot Culture“.

Der Pygmalion-Komplex ist in der Robotik angekommen. Und nun kann man sich mal fragen, warum „Alexa“, „Siri“ und viele andere digitale Befehlsempfänger eigentlich weibliche Stimmen haben …

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