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Deutschland - 14.11.2018

„Kinderschutz ist die verantwortungsvollste Aufgabe“

Arme Kinder in Deutschland haben schlechtere Chancen. Das ist das Ergebnis der aktuellen Studie Datenreport 2018. Martina Hermann-Biert erklärt im DW-Gespräch, wie ihre Initiative „Dormagener Modell“ dagegen ankämpft.

Deutsche Welle: Was ist das „Dormagener Modell“?

Martina Hermann-Biert: Wir versuchen, präventiv und flächendeckend für alle Familien in Dormagen da zu sein. Dabei machen wir keine Unterschiede und versuchen frühzeitig, Kinderarmut entgegenzuwirken. Unser Programm begleitet mittlerweile die Kinder von der Geburt an bis zum Einstieg in den Beruf. Inzwischen sind 700 Personen beim Dormagener Modell dabei und untereinander vernetzt: Ärzte, Lehrer, Erzieher, Logopäden,  Schuldnerberater und 15 Sozialarbeiter hier bei der Stadt. Jeder dieser Sozialarbeiter hat in Dormagen einen Bezirk und ist für diesen über Jahre zuständig.

Woher kam die Idee zu diesem Projekt?

Vor ungefähr 20 Jahren haben wir mit einer Handvoll Sozialarbeiter überlegt: Wir sind engagiert, haben gute Ideen und können soviel Hilfe anbieten, doch die, diese Hilfen brauchen könnten, nehmen sie selten an, weil alle Angst vorm Jugendamt haben. Die Leute kamen häufig erst zu uns, wenn es für das Kind fast schon zu spät war. Und der Tenor war, dass Jugendämter ohne sichtbaren Grund anderen Leuten die Kinder wegnehmen können. Wir haben dann ein Konzept erstellt, Außenstehende mit ins Boot genommen und uns wissenschaftlich beraten lassen. Später dann wurde Heinz Hilgers Bürgermeister, der gleichzeitig auch Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes war und noch heute ist. Und er unsere Präventionsideen gut und hat sie unterstützt.

Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, war von 2004 bis 2009 Bürgermeister von Dormagen

Sie haben dann losgelegt – und das Besondere dabei: Sie begleiten die Familien schon ab der Geburt ihres Kindes.

Genau. Wir besuchen alle Eltern, die ein Kind zur Welt bringen, alle, egal welche Nationalität, egal welcher Berufsstand. Wir machen das flächendeckend, natürlich nur im Einverständnis mit den Eltern, das ist keine Zwangsmaßnahme. 2006 haben wir damit angefangen, also vor zwölf Jahren. Der Bürgermeister hat die Leute freundlich angeschrieben und wir Sozialarbeiter sind zu den Familien gegangen: mit einem Paket voll mit Geschenken und Informationsmaterial und haben auch angeboten, Anträge mit auszufüllen.

Wie haben Sie es geschafft, dass die Familien das Dormagener Modell sofort annehmen?

Just, als wir angefangen haben, war in Deutschland eine große Debatte über Kinderschutz entfacht, weil damals die Leiche des zweijährigen Kevin in Bremen im Gefrierschrank gefunden wurde. Und so wurde die Presse auf uns aufmerksam. Ich wurde damals in alle möglichen TV-Sendungen eingeladen, um das „Dormagener Modell“ vorzustellen. Die Menschen hier waren unheimlich stolz, dass ihr Jugendamt auf einmal so berühmt war. Es war also der perfekte Zeitpunkt, um damit zu starten. Als wir damals angefangen haben, haben die Menschen sogar angerufen und gesagt: ‚Sie haben mich vergessen!‘

Ist das heute immer noch so?

Ja, heute nehmen 96 Prozent der Eltern in Dormagen unsere Angebote an. Der erste Besuch ist dabei immer entscheidend, es ist unser Fuß in der Tür, unsere Eintrittskarte. In drei Prozent der Fälle richten wir da schon konkrete Hilfen ein. Jede zehnte Familie meldet sich in den ersten drei Jahren des Kindes und bittet um Unterstützung. Wir als Jugendamt verstehen uns mit dem Modell als Gast, das heißt, wir schauen nicht unter die Betten und in die Schränke. Gegenseitiges Vertrauen ist da natürlich ganz wichtig.

Nun ist Dormagen eine Stadt mit über 60.000 Einwohnern. Wie geht man da an so ein Projekt heran?

Wir haben zu Beginn intern eine Analyse erstellt: 13 Prozent aller Kinder lebten damals in Dormagen an der Armutsgrenze und waren benachteiligt. Sie haben also nicht die gleichen Entwicklungschancen in der Bildung, der Gesundheit, in allen Bereichen. Wir müssen diese Kinder öffentlich mehr unterstützen. Und dann haben wir die beiden Stadtteile in Dormagen, die da maßgeblich waren, Hackenbroich und Horrem, besonders gefördert. Wir haben zum Beispiel einen Kinderarzt mit einer halben Stelle eingesetzt und bezahlt, der alle Kinder bis vier Jahre in diesen beiden Stadtteilen untersucht hat. Natürlich mit dem Einverständnis der Eltern und im Beisein der Erzieherinnen, um herauszufinden, was diese Kinder brauchen. Viele Eltern in den Stadtteilen sind Alleinerziehende, die mehrere Kinder haben, und für die waren die Kinderärzte im Zentrum viel zu schwer erreichbar. Oder wir haben auch spezielle sprachliche Förderprogramme in den Kindertagesstätten durchgeführt. Heute liegen die Kinder dort in der Sprachentwicklung über dem Durchschnitt des gesamten Kreisgebietes.

„Man muss die Eltern als Experten in ihren Lebenswelten ernst nehmen“ – Sozialpädagogin Martina Hermann-Biert

Gibt es noch weitere Daten, die belegen, dass das „Dormagener Modell“ ein Erfolgsmodell ist?

Bundesweit kann man sehen, dass die Zahl der Inobhutnahmen der Kinder unter sechs Jahren ansteigt, dass also Kinder aus den Familien genommen werden, weil sie dort gefährdet sind. Bei uns in Dormagen ist das mittlerweile ganz selten. Wir haben Baby-Clubs und acht Familienzentren. Wir sind so gut vernetzt, dass alle schauen, wie man den Familien helfen kann. So früh und effizient wie möglich. Und das lohnt sich dann auch finanziell für die Kommunen: wir haben durch unsere frühe Hilfe zum Beispiel vergleichsweise weniger Kinder in den Heimen und sparen deswegen auch Geld.

Was sind Ihres Erachtens die Grundvoraussetzungen, ein Modell wie das in Dormagen zu starten?

Es muss ein Motor da sein, Menschen, die das wollen, die Verwaltung und die Politik, die das möglich machen. Wir haben uns 2006 einen politischen Beschluss geholt. Das heißt, selbst wenn der Bürgermeister wechselt, ist das Präventionsprojekt politisch verankert und kann weitergehen, es ist also nicht abhängig von irgendeiner Person. Man braucht Zeit, um so ein Modell zu installieren. Man muss es ständig evaluieren und verbessern. Und man muss wissen, dass es viel Arbeit ist. Wir haben bei unserem Personal kaum Fluktuation und zahlen auch besser als in anderen Kommunen, weil wir finden, dass Kinderschutz eine der verantwortungsvollsten Aufgaben überhaupt ist. Im Gegenzug haben wir eine ganz große Arbeitszufriedenheit, weil wir die Erfolge in den Familien sehen. Die Mitarbeiter, die bei uns in Ruhestand gehen, sagen immer, dass sie gerne weiter arbeiten würden.

Die Sozialpädagogin Martina Hermann-Biert leitet bei der Stadt Dormagen den Fachbereich für Jugend, Schule, Soziales und Wohnen und ist Initiatorin und hauptverantwortlich für das „Dormagener Modell“.

Das Gespräch führte Oliver Pieper.

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