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Deutschland - 11.12.2018

Deutschsein ist kein Zuckerschlecken: Das Haus der Prinzessinnen

Jede chinesische Universität ist ein Kosmos für sich. Studentenheime werden auf dem Unigelände gebaut. Es herrscht strikte Geschlechtertrennung. Doch die Studenten wissen sie zu umgehen, berichtet Zhang Danhong.

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Privatsphäre kannten wir nicht, deswegen wurde sie auch nicht vermisst. Wir waren sechs in einem Zimmer – eine deutliche Verbesserung gegenüber acht an der Fremdsprachenschule. Die anderen fünf Zimmergenossinnen lernten Deutsch von Null an und waren froh, mich mit allerlei Fragen löchern zu können. Die Studentin, die mit mir ein Etagenbett teilte, wurde bald meine beste Freundin. Sie konnte nicht nur tanzen und Country-Lieder singen, sie hatte auch einen Cousin an der wichtigsten Stelle – Essensverteilung in der Mensa.

Die Chinesen sagen: „Dem Volk ist das Essen der Himmel.“ Während der Studienzeit war das mein Leitspruch, weil ich ständig Hunger hatte. Meinen Zimmerfreundinnen ging es nicht anders. Schnell erkannten wir, in welch einmaliger Lage sich unser Zimmer befand: im Erdgeschoss an der Seitentür eines Studentenwohnheimes, in dessen direkter Nachbarschaft ein Chinakohl-Berg unter einer Plastikplane ruhte. Mit anderen Worten: Niemand war diesem Wintervorrat für die Mensa näher als wir. Eines tristen Dezemberabends beschlossen wir einstimmig, diese strategisch wichtige Position zu nutzen. Wir teilten uns auf in drei Teams: Das erste stand Schmiere, das zweite „holte“ sich unauffällig einen Chinakohl und das dritte bereitete heißes Wasser, Nudeln und Schüsseln vor. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals leckerere Chinakohl-Nudelsuppe genossen zu haben.

Chinakohl war das Hauptgemüse in den Wintermonaten in China

Keine Nachsicht für Liebespaare

Besonders in Acht nehmen mussten wir uns vor einer älteren Frau, die als Aufsichtsperson fungierte. Abends schlenderte sie um unser Haus herum und schloss die drei Türen (eine Vorder- und zwei Seitentüren) pünktlich um 23 Uhr ab. Diese Regelung war vor allem hart für die Liebespaare, die nur den Geliebten (die Geliebte) im Blick hatten, aber nicht die Uhrzeit. So versammelten sich jeden Abend kurz nach elf zwei Gruppen von Studenten auf beiden Seiten der verschlossenen Tür: Die Mädchen vor der Tür, die ins Heim rein wollten und die Jungs hinter der Tür, die raus mussten. Es hing von der Tagesform der alten Dame ab, wie lange sie die Liebenden je nach Standort schwitzen oder frieren ließ. Überflüssig zu erwähnen, dass sämtliche Fenster im Erdgeschoss mit Gittern versehen waren. 

Da die Liebe ja bekanntlich erfinderisch macht, fanden die Jungs schnell heraus, dass ein dickes Wasserrohr vom Waschraum auf der ersten Etage direkt nach draußen führte. Irgendwann wurde es von einigen Studenten auch als der geheime Weg nach innen genutzt, um bei ihren Mädchen zu übernachten. Von Stau im Rohr wurde nicht berichtet.

Es ist nicht so, dass nur unser Haus ein Problem mit der 23-Uhr-Regelung hatte. Aber bei uns war es besonders ausgeprägt, da unser Haus, dessen Bewohnerinnen westliche Literatur studierten und denen eine aufgeschlossene Haltung in Bezug auf Sexualität nachgesagt wurde, die meisten Jungs anlockte. Als das „Haus der Prinzessinnen“ wurde das dreistöckige Gebäude bezeichnet, ein Sehnsuchtsort der männlichen Studenten.  

Die feudalistischen Knoten durchschlagen

Der Präsident der Studentenvereinigung, ein rhetorisch begnadeter Student von der Soziologie-Fakultät, wurde auf die mitternächtliche Situation rund um unser Heim aufmerksam und forderte die Leitung der Universität auf, diese in seinen Augen menschenunwürdige Regel abzuschaffen – ohne Erfolg. Es trug sich zu, dass er einmal spätabends Zeuge eines Streits zwischen zwei heimkehrenden Studentinnen und der Aufsichtsdame wurde. Da die Frau auf seine Bitte, die Tür aufzuschließen, nicht reagierte, hielt er eine spontane Rede vor Dutzenden von Schaulustigen. Darin nannte er das Schloss ein feudalistisches Symbol und kündigte an, es nach der Rede kaputt zu schlagen. Unter dem Beifall der anwesenden Studentinnen und Studenten zog er einen Schuh aus und schlug das Schloss auf.

Verdattert schaute die alte Dame zu und rief dann den Sicherheitsdienst an. Beinah wurde unser feministischer Held von den kampferprobten Sicherheitsleuten verprügelt. Erst im letzten Augenblick traf der Verwaltungschef der Uni ein und sorgte für ein unblutiges Ende.

Dramen von Wolfgang Borchert sind Teil des Germanistik-Studiums in China

Weder sah ich damals in diesem Schloss ein politisches Statement, noch hatte ich einen Freund, von dem ich mich pünktlich um 23 Uhr trennen musste. Dennoch hasste ich die Regel, weil sie mich in meiner Eigenschaft als Nachtmensch einschränkte. Wir hatten zwar ein Seminargebäude, das durchgehend geöffnet war. Aber was bringt das, wenn man vor elf im Studentenheim zurück sein muss? Durch das Wasserrohr kriechen kam für mich nicht in Frage. Also traf ich die Entscheidung, die Nacht zum Tag zu machen. Rechtzeitig vor elf verließ ich das Haus der Prinzessinnen und trat in das einzige hell beleuchtete Gebäude der ganzen Uni ein. Dort las ich die deutsche Trümmerliteratur oder bereitete mich auf Prüfungen vor. Um sieben Uhr morgens kehrte ich zurück und legte mich schlafen. Diesen Rhythmus hielt ich nicht lange durch. Bei der Lektüre von „Draußen vor der Tür“ (Wolfgang Borchert) stellte ich fest, dass ich ebenfalls draußen vor der Tür stehen müsste, würde ich jetzt in mein warmes Bett einsteigen wollen. Daraufhin verfiel ich in eine unendliche Melancholie und lebte vom nächsten Tag an nicht mehr nach der mitteleuropäischen Zeit. 

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie „Deutschsein ist kein Zuckerschlecken“ schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.

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